Quelle: Sachverständigenrat für Integration und Migration
Umsetzungsdefizite beheben und differenziert diskutieren, statt Ängste zu schüren: SVR warnt vor Eskalationsspirale in der Asyldebatte
Der Anschlag in Solingen am 23. August hat – auch vor dem Hintergrund der Landtagswahlen – eine politische und mediale Debatte ausgelöst, die einerseits auf konkrete Maßnahmen abzielt und andererseits Grundsatzfragen der Flüchtlingspolitik berührt. Die Bundesregierung hat hierzu ein „Sicherheitspaket“ vorgelegt, das Gegenstand von Gesprächen von Vertretern der Bundesregierung, der Länder und der Bundestagsfraktion von CDU/CSU ist, die am kommenden Dienstag fortgesetzt werden sollen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) nimmt die Debatte zum Anlass, vor vermeintlich einfachen Lösungen zu warnen, die sich nicht umsetzen lassen. Er sieht auch die Gefahr, dass die aufgeheizte Debatte das Integrationsklima im Land zu vergiften droht. In der Asylpolitik gilt es, Umsetzungsdefizite zu beheben und europäisch zu agieren.
"Die Politik sieht sich unter Handlungsdruck gesetzt. Die Eskalationsspirale in der öffentlichen Debatte löst aber kein einziges Problem, sie schürt Ängste und schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit Aktionismus werden Erwartungen geweckt, an denen Politik gemessen wird. Hier sollten alle Beteiligten verbal abrüsten", sagt der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR), Prof. Dr. Hans Vorländer. "Ohne eine zutreffende, differenzierte Analyse von Problemen lassen sich die richtigen Lösungen nicht finden. Der Ruf nach immer weiteren Gesetzesänderungen und -verschärfungen hilft nicht weiter, wenn die Umsetzung das Problem ist. Auch politisch scheint die Strategie nicht aufzugehen: Die Parteien der demokratischen Mitte können kaum Kapital für sich daraus schlagen, wenn sie immer restriktivere Maßnahmen fordern. Sie müssen vielmehr konkrete Probleme lösen und eine differenzierte Debatte führen, dafür sind auch die Wählerinnen und Wähler offen." Eine undifferenzierte Debatte dagegen kann erhebliche Folgen haben, so der SVR-Vorsitzende:
"Es droht ein Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen und Bürgern, wenn Erwartungen geschürt werden, die nicht erfüllbar sind; ein auf Migrationsabwehr fokussierter Diskurs wertet die Integrationsleistungen der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland ab, die hier einen wichtigen Beitrag leisten und sich an Recht und Gesetz halten; er kann zuwanderungsinteressierte und benötigte Arbeits- und Fachkräfte abschrecken und zu gesellschaftlicher Spaltung beitragen." SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Hans Vorländer
Aktuell sieht der SVR vor allem ein Vollzugsdefizit. "Eine Wende in der Flüchtlingspolitik ist ja längst eingeleitet: Mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hat sich Deutschland bereits mit der EU und den übrigen Mitgliedstaaten auf restriktivere Maßnahmen verständigt. Das hat das SVR-Jahresgutachten 2024 im Detail gezeigt. Sie müssen bis 2026 umgesetzt werden. Deutschland kann Teilaspekte aber auch jetzt schon implementieren", sagt Vorländer. "Klar ist: Es braucht grundsätzlich eine europäische Lösung, wenn man die Fluchtmigration besser steuern und begrenzen will – und mehr Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten. Wenn die Umsetzung auf europäischer Ebene scheitert, dann droht die Gefahr einer weiteren Renationalisierung des gesamten Asylsystems. Das wäre ein Einschnitt von historischem Ausmaß und mit unabsehbaren Folgen. Auch grundsätzlichen Zurückweisungen an der deutschen Grenze oder einem Aufnahmestopp für bestimmte Gruppen ist vor diesem Hintergrund aus menschen- und asylrechtlichen sowie aus politischen Gründen eine Absage zu erteilen."
Es ist hingegen richtig, unabhängig von Migrations- und Asylpolitik auf Islamismusprävention zu setzen. Die im Sicherheitspaket enthaltene Absicht, eine Task Force hierzu aus Wissenschaft und Praxis einzurichten, begrüßt der SVR: "Auch hier braucht es eine differenzierte Analyse, um der Radikalisierung von Menschen im islamistischen Kontext auf allen Ebenen wirksam vorzubeugen und entsprechende Propaganda in den sozialen Medien zu bekämpfen", so Prof. Vorländer.
Zu einzelnen Aspekten in der Debatte nimmt der SVR wie folgt Stellung:
Keine Sozialleistungen für sogenannte Dublin-Fälle: Eine grundsätzliche Leistungsabsenkung für alle Schutzsuchenden lässt die Verfassungsrechtsprechung nicht zu. Eine Leistungsreduktion bei Schutzsuchenden, für die laut Dublin-Regelung ein anderer europäischer Staat zuständig ist, ist aber heute schon möglich. Das physische Existenzminimum muss dabei jedoch gewährleistet bleiben, das hat das Bundesverfassungsgericht 2012 festgestellt. In diesem Kontext ist auch die neue EU-Aufnahmerichtlinie relevant, die als Teil der Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems bis spätestens Mitte 2026 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Demnach besteht bei sogenannten Dublin-Fällen kein Anspruch mehr auf die regulären materiellen Leistungen ab dem Zeitpunkt, zu dem ein Antragsteller erfährt, dass er ausreisepflichtig ist, also in den gemäß der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung tatsächlich zuständigen EU-Mitgliedstaat überstellt werden muss. Empirisch ist umstritten, ob die Höhe der Sozialleistungen die Zuwanderung beeinflusst, wie das SVR-Jahresgutachten 2024 zeigt. Generell scheinen soziale Faktoren wie die Anwesenheit von Familienangehörigen, Bildungsmöglichkeiten und die Achtung der Menschenrechte sowie Arbeitsmöglichkeiten eher zu der Entscheidung beizutragen, weiterzuwandern. Es gibt aber Hinweise darauf, dass die Leistungen bei einer Migration innerhalb der Europäischen Union unter Umständen mehr Gewicht haben als bei einer außereuropäischen Zuwanderung.
Grenzkontrollen: Grenzkontrollen im Schengen-Raum sind durch die Vorgaben des Schengener Grenzkodex enge Grenzen gesetzt, da die Personenfreizügigkeit als eine der wichtigsten Errungenschaften der EU gilt; die im Juli 2024 in Kraft getretene Änderungsverordnung erleichtert allerdings den Mitgliedstaaten, temporäre Grenzkontrollen einzuführen und aufrechtzuerhalten, sofern außergewöhnliche Umstände vorliegen. Dies wäre maximal für die Dauer von zwei Jahren möglich und mit einem hohen Personalaufwand bei der Bundespolizei und der Polizei in Bundesländern verbunden. In schwerwiegenden Ausnahmesituationen können diese Kontrollen bis zu einem Jahr verlängert werden. Aus Sicht des SVR sind permanente stationäre Kontrollen innerhalb des Schengen-Raumes zu vermeiden. Auf diese stellen sich Schleuser schnell ein und sie verursachen hohe ökonomische Kosten bei Grenzstaus; vielmehr sind alternative Lösungen in Abstimmung mit den jeweiligen Nachbarländern zu empfehlen, wie bei der Kooperation mit der Schweiz.
Aberkennung des Flüchtlingsstatus bei Reise in die Herkunftsländer: Grundsätzlich sind Reisen in das Herkunftsland für Schutzberechtigte nur unter spezifischen Voraussetzungen erlaubt bzw. können unter bestimmen Voraussetzungen zum Widerruf des Schutz- und Aufenthaltsstatus führen. Allerdings fehlt es bislang an einer gesetzlichen Grundlage, die es etwa dem BAMF oder den Ausländerbehörden ermöglicht, die entsprechenden Ausreisegründe ex ante zu beurteilen. Der SVR empfiehlt, hier für Rechtsklarheit zu sorgen und ein geregeltes Verfahren zu etablieren. Legitime Reisegründe und Reisedauern könnten zum Beispiel durch die Nennung von Regelbeispielen wie Begräbnisse, Hochzeiten oder die Reise zu schwer kranken Familienangehörigen nachvollziehbar gemacht werden.