Neue Studie: "Jüngere sind sensibler für Rassismus"

Beim Auftakt der Interkulturellen Woche in Lünen 2019 setzten Schüler ein Zeichen gegen Rassismus.
Neue Studie: "Jüngere sind sensibler für Rassismus"

Quelle: MEDIENDIENST INTEGRATION

Eine neue Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung zeigt: Rassismus ist in Deutschland kein Randphänomen. Der Mehrheit der Bevölkerung ist das bewusst, viele stimmen aber trotzdem rassistischen Aussagen zu. Im Interview mit dem MEDIENDIENST INTEGRATION spricht der Leiter der Studie, Cihan Sinanoğlu, über Widersprüche und klassische Abwehrreaktionen.

Cihan Sinanoglu
Cihan Sinanoğlu. Foto: DeZIM

MEDIENDIENST: Was hat Sie erstaunt an den Ergebnissen der Auftaktstudie des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors?
Cihan Sinanoğlu: Eine Mehrheit der Bevölkerung – 90 Prozent! –, erkennt an, dass es in Deutschland Rassismus gibt. Eine Mehrheit sagt auch, dass es institutionellen Rassismus gibt. Die Debatten der letzten zwei Jahre haben sicherlich stark beigetragen, dass das Problembewusstsein hier zugenommen hat. Die Frage, ob es Rassismus in Deutschland gibt, ist mit der Studie also geklärt. Die Ergebnisse zeigen aber leider auch, dass sich rassistische Wissensbestände in der Bevölkerung hartnäckig halten. Fast die Hälfte der Befragten glaubt zum Beispiel noch, dass es menschliche "Rassen" gibt.

"Rassismus lebt von Ambivalenzen. Das macht es auch so schwierig, dagegen vorzugehen.“

Wie erklärt sich dieser Widerspruch, dass Personen Rassismus als Realität anerkennen, aber gleichzeitig rassistischen Aussagen zustimmen?
Es gibt zwar noch Menschen mit einem geschlossen rassistischen Weltbild. Aber sehr viel häufiger sind ambivalente Einstellungen anzutreffen. Dass Rassismus ein allgemeines gesellschaftliches Problem ist, das lässt sich noch vergleichsweise leicht sagen. Schwieriger wird es, wenn es dann aber um eigene Einstellungen und Deutungshoheiten geht. Da kommen schnell Abwehrreaktionen: Man will selbst bestimmen, was rassistisch ist und was nicht. Personen, die auf Rassismus hinweisen, wird unterstellt, hypersensibel zu sein. Rassismus lebt von diesen Ambivalenzen. Das macht es auch so schwierig, dagegen vorzugehen.

Sie sprechen in der Studie davon, dass viele Menschen indirekt von Rassismus betroffen sind. Was meinen Sie damit?
Rassismus wirkt sich nicht nur auf Personen aus, die selbst davon betroffen sind – etwa, indem sie rassistische Gewalt erfahren. Viele Menschen kommen in ihrem Freundeskreis, unter Kolleg*innen oder in der Familie damit in Berührung. Diese Menschen sind dann natürlich stärker für Rassismus sensibilisiert, sie tauschen sich mit Betroffenen aus und wissen möglicherweise, was es für Betroffene bedeutet, Rassismus zu erfahren. Unsere Studie zeigt, wie verbreitet die Auseinandersetzung mit Rassismus für viele Menschen ist. Sie macht deutlich: Rassismus ist kein Randphänomen. Sehr viele Menschen sind direkt oder indirekt davon betroffen.

"Menschen wollen nicht als rassistisch bezeichnet werden und fühlen sich persönlich angegriffen, wenn sie auf Rassismus hingewiesen werden.“

Obwohl es so viel direkte oder indirekte Betroffenheit gibt, wird Rassismus von 60 Prozent der Befragten als ein Problem des rechten Randes und von 35 Prozent vor allem als ein Problem der USA gesehen.
Rassismus ist natürlich in rechtsextremen Gruppen verstärkt anzutreffen, das ist keine Frage. Aber Rassismus allein dort zu verorten ist auch eine Entlastungstrategie: Man sagt damit, man selbst sei nicht rassistisch, das sei ein Problem der anderen. In Deutschland wurde lange behauptet, dass es nach dem Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieg keinen Rassismus mehr gab. Dass das vielleicht in den USA ein Problem ist, vielleicht noch in Großbritannien oder in Frankreich, aber nicht hier. Diese Wahrnehmung scheint sich aber langsam zu ändern.

Der Monitor zeigt deutlich, dass es bei vielen Menschen zu Abwehrreaktionen führt, wenn Rassismus benannt wird. Ein Drittel sagt, dass Menschen, die sich über Rassismus beschweren, überempfindlich seien. Was steht dahinter?
Menschen wollen nicht als rassistisch bezeichnet werden und fühlen sich persönlich angegriffen, wenn sie auf Rassismus hingewiesen werden. Das zeigt unsere Studie sehr deutlich. Bei vielen führt das zu einer Abwehrhaltung oder einer Abwertung von Betroffenen. Dabei handelt es sich nicht um individuelle Empfindsamkeiten, wenn auf Rassismus hingewiesen wird. Sondern darum, dass manche Leute deswegen weniger Handlungsmöglichkeiten und schlechtere Lebenschancen haben.

"Wir haben festgestellt, dass sich der Umgang mit Rassismus je nach Generation unterscheidet.“

Die Studie zeigt, dass die jüngere Generation Rassismus stärker als ein Problem wahrnimmt. Auch Ältere, die von Rassismus betroffen sind, benennen ihn oft nicht als solchen.
Wir haben festgestellt, dass sich der Umgang mit Rassismus je nach Generation unterscheidet. Diesen Unterschied sehen wir auch innerhalb von rassifizierten Gruppen. Das heißt nicht, dass ältere Personen notwendigerweise weniger rassistische Erfahrungen gemacht haben müssen. Überhaupt nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass ältere Menschen sie anders deklarieren und bewerten. Die Erwartungen und das Bewusstsein in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung sind bei den hier geborenen Nachkommen von Eingewanderten andere. Das zeig die Studie: Jüngere Befragte sind sensibler für Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, sie erkennen und benennen sie klarer als solche. Auch die antirassistischen sozialen Bewegungen haben dazu beigetragen, dass Rassismus heute viel häufiger kritisiert und angeprangert wird.

Laut der Studie gibt es ein großes antirassistisches Potential in der Gesellschaft, macht Ihnen das Hoffnung?
Ja, das macht mir schon Hoffnung. Wir müssen aber noch viel stärker eine Vision von einer Gesellschaft, einer Welt ohne Rassismus entwickeln. Mit den Ergebnissen der Studie müssen wir jetzt nicht mehr die Debatte führen, ob es Rassismus gibt oder nicht. Sondern, wie wir damit umgehen, dass er alltäglich ist und die Lebensrealitäten so vieler Menschen prägt. Darauf muss die Politik jetzt Antworten finden. Und das geht nur mit den Stimmen der Communities, die von Rassismus betroffen sind.

Interview: Andrea Pürckhauer

Dr. Cihan Sinanoğlu ist Sozialwissenschaftler. Seit Oktober 2020 leitet er am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) die Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa). Der Rassismusmonitor wurde 2020 eingerichtet, um Rassismus in Deutschland zu erforschen – wenige Monate nach den Anschlägen von Halle und Hanau und dem Tod von George Floyd.