Quelle: Churches‘ Commission für Migrants in Europe
Die "Churches‘ Commission for Migrants in Europe" (CCME) fordert – insbesondere angesichts der Situation in Afghanistan – in einer Erklärung mit dem Titel „Gemeinsam können wir in Europa erneut eine Million schutzbedürftiger Menschen retten!“ die Aufnahme von Schutzsuchenden in Europa. Konkrete Forderungen sind unter anderem sichere und legale Migrations- und Fluchtwege wie Resettlement-Programme, das Recht auf Familienzusammenführung und keine weiteren Lager und Rechtsbrüche an der EU-Außengrenze. Dazu formuliert die Erklärung Selbstverpflichtungen, als europäische Kirchen auch weiterhin und verstärkt für Flüchtlingsschutz und Integration einzutreten.
Das Papier wurde bei der der außerordentlichen CCME-Generalversammlung verabschiedet, die vom 14. Bis 16. Oktober in Brüssel stattfand. In der CCME sind 36 Kirchen und Institutionen aus 19 europäischen Ländern vertreten, aus Deutschland die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie. Wir dokumentieren die Erklärung im Wortlaut:
Erklärung der außerordentlichen CCME-Generalversammlung 2021: Gemeinsam können wir in Europa erneut eine Million schutzbedürftiger Menschen retten!
"Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan." (Matthäus 25,40)
Als außerordentliche Generalversammlung der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME) tagten wir vom 14. bis 16. Oktober 2021 in Brüssel und vertraten dabei 41 Kirchen, Kirchenräte und ähnliche Organisationen aus ganz Europa.
Wir sind besorgt. Die Weltöffentlichkeit hat in den letzten Monaten mit Schock, Verzweiflung und Wut verfolgt, wie verzweifelte Menschen in Panik versucht haben, über den Flughafen in Kabul aus Afghanistan zu fliehen. Insbesondere die Bürgerinnen und Bürger in Europa sind beschämt, wie „der Westen“ diejenigen, die an ein freies und demokratisches Afghanistan geglaubt hatten, völlig im Stich lässt und kaum etwas tut, um Fluchtwege für sie zu schaffen. Der schreckliche Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos im September 2020 – an dessen Jahrestag man sich in der EU jüngst erinnerte – machte deutlich, wie gefährlich und prekär die Aufnahmesituation vielerorts an der EU-Außengrenze bleibt. Wir blicken mit Wut auf das Zurückdrängen von Schutzsuchenden. Wir blicken mit Entsetzen auf die Tausenden von Toten im Mittelmeer.
"Wir haben Platz in unseren Städten und in unseren Herzen!"
Wir sind aber auch hoffnungsvoll. Wir sehen die vielen Koalitionen der Willigen in Städten und Regionen, die 2015 und in den Jahren danach Großartiges geleistet haben, um eine Million Menschen zu retten. Die Tragödie bleibt, doch wenn wir uns mit einer humanen und realistischen Asyl-, Migrations- und Sozialpolitik für die neu ankommende und ansässige Bevölkerung vorbereiten und diese gemeinsame Verantwortung europaweit teilen, könnten die Koalitionen der Willigen das Gleiche wieder tun. Wir haben Platz in unseren Städten und in unseren Herzen!
Wir sind uns bewusst, dass, obwohl wir in den vergangenen Jahren eine Million Menschen gerettet haben, der aktuelle Ausgangspunkt jeder EU-Reaktion auf alle Migrationsbewegungen das Mantra ist: "2015 darf sich nicht wiederholen". Diese allgemeine Aussage ist unseres Erachtens schwer nachvollziehbar. Es stimmt, dass es vor allem bei der Aufnahmeverantwortung Schwierigkeiten und Probleme gegeben hat, die weitgehend von einigen wenigen Staaten und ihrer Bevölkerung geschultert wurden. Diese Probleme sind vor allem dadurch entstanden, dass sich einige EU-Mitgliedstaaten geweigert haben, der Realität ins Auge zu schauen, vor 2015 auf Expertisen zu hören, die eine große Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten vorhersagten, und sich entsprechend vorzubereiten. Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben die vereinbarte Aufnahmerichtlinie nicht umgesetzt, und niemand hat diese Staaten zur Rechenschaft gezogen. Leider hat man aus diesem Versagen nur sehr wenig gelernt.
"Dass viele derjenigen, die 2015 ankamen, in der COVID 19-Pandemie bereits im Gesundheitssektor arbeiteten und helfen konnten, ist ein Zeichen für den erfolgreichen Wiederaufbau von Leben und für Integration."
Wir sind ermutigt. Die bestärkende Erfahrung des Jahres 2015 bleibt, dass die Zivilgesellschaft – und nicht zuletzt die Kirchen – sich für die Lösung des Problems einzusetzen. Auch wenn es mancherorts weiterhin Herausforderungen gibt, sieht die Situation insgesamt positiv aus. Dass viele derjenigen, die 2015 ankamen, in der COVID 19-Pandemie bereits im Gesundheitssektor arbeiteten und helfen konnten, ist ein Zeichen für den erfolgreichen Wiederaufbau von Leben und für Integration. Die Tatsache, dass die Medien, vor allem die sozialen Medien, sowie die Politik oft ein anderes Bild zeichnen, liegt vor allem daran, dass sie aus bestimmten Eigeninteressen eine Krise herbeireden und konstruieren.
Wir sind uns bewusst, dass viele versuchen werden, unseren Appell als unrealistisch hinzustellen. Zweifellos, unsere Vorschläge erfordern Engagement und Mut. Insgesamt sind sie aber sicherlich realistischer und humaner als die Unzulänglichkeiten der derzeitigen Politik und Praxis. Die Einwanderung wird kommen und bleiben, darauf sollten wir uns vorbereiten.
Jetzt vorzubereiten sind: Sichere Fluchtwege, Asyl und Migration – auf der Grundlage von Realismus, Mitgefühl, Solidarität und Grundrechten.
Ein grundlegender Wandel in der Ausrichtung und Rhetorik der europäischen Asyl- und Migrationspolitik ist notwendig, um das Leid an den europäischen Außengrenzen sowie die Angst und den Hass auf den Anderen in Europa zu überwinden. In dieser Situation fordern wir die EU-Institutionen und alle Mitgliedstaaten auf, ihre praktische und gesetzgeberische Arbeit an Folgendem auszurichten:
- Neben Unterstützung für Schutz und menschenwürdige Aufnahme in den Krisenregionen weltweit, braucht es auch angemessene, sichere Fluchtwege nach Europa, z. B. durch die Erhöhung der Resettlementquote für Afghan:innen, wie auch für andere Flüchtlingsgruppen.
- Alle Pläne müssen aufgegeben werden, noch mehr schutzbedürftige Menschen unter erbärmlichen Bedingungen an der europäischen Außengrenze festzuhalten oder außerhalb Europas in den Händen fragwürdiger Regime zu lassen.
- Es braucht ein funktionierendes System, um auch auf große Zahlen von Schutzsuchenden zu reagieren – durch mehr Aufnahmekapazitäten, wie auch Kapazitäten um ihre Asylanträge zu prüfen. Statt weiter das europäische Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen, wie es bei der vorgeschlagenen europäischen "Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Fällen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl" der Fall wäre.
- Es braucht zwischen ALLEN EU-Mitgliedsstaaten ein verlässliches, verbindliches System der geteilten Verantwortung und Solidarität für den Flüchtlingsschutz, welches die Bindungen und Wünsche der Asylsuchenden berücksichtigt – anstatt die Fehler der Dublin-Verordnung weiter zu wiederholen.
- Asylbewerber in Europa, die vor individueller oder genereller Bedrohung geflohen sind, müssen die Sicherheit eines Aufenthaltsstatus erhalten, wenn sie nirgendwohin in Sicherheit zurückkehren können.
- Familienzusammenführung für Flüchtlinge und Personen mit anderem Schutzstatus sollte ermöglicht werden.
- Die Kriminalisierung der humanitären Hilfe für Flüchtlinge und Migranten muss beendet werden, einschließlich der zivilen Seenotrettung.
- Der bestehende Rechtsrahmen („acquis“) im Bereich Asyl, der zwischen 1999 und 2013 entwickelt wurde, sollte vollständig umgesetzt werden, einschließlich der bestehenden Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes.
Wir verpflichten uns als Kirchen in Europa,
… die Koalitionen der Willigen in Städten, Regionen und Ländern zu stärken. Wir verstärken ihre Stimme und unterstützen ihre inspirierende Kraft;
… die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa weiterhin durch unser Fachwissen und unsere Netzwerke zu unterstützen,
… Ressourcen zu mobilisieren, um die Anzahl und Qualität von Schutzplätzen zu erhöhen – ergänzend zu den staatlichen Bemühungen;
… davon zu sprechen, wie ermutigend die Integrationserfahrungen derjenigen sind, die als Schutzbedürftige ankamen oder als Arbeitsmigrant:innen Europa am Laufen halten;
… uns in der interkulturellen, interreligiösen und ökumenischen Arbeit zu engagieren, um gesellschaftliche Spannungen und Konflikte zu erkennen und konstruktiv anzugehen;
… unser praktisches Engagement für alle Ausgegrenzten unter der ansässigen Bevölkerung und den Neuzugezogen fortzusetzen, wie auch unser politisches Engagement für Solidarität und Gemeinwohl;
… politische Akteure und Medien, die Angst, Hass, Rassismus und Vorurteile schüren, herauszufordern und ihnen gegebenenfalls die Unterstützung zu entziehen (durch Wahlen, Desinvestitionen, Boykott).
Gemeinsam können wir wieder eine Million Menschen retten!