Hochkarätig besetzte Podien, spannende Arbeitsgruppen und viel Raum zur Vernetzung
"Endlich sehen wir uns mal wieder!" Diesen Satz hörte man häufig im Roncalli-Haus in Magdeburg. Denn nach drei Jahren im Online-Format fand die bundesweite Vorbereitungstagung zur Interkulturellen Woche (IKW) 2024 endlich wieder in Präsenz statt. Rund 140 Engagierte aus dem gesamten Bundesgebiet, waren am 23. und 24. Februar nach Magdeburg gekommen, um sich mit aktuellen Themen zu beschäftigen, die für die IKW relevant sind.
Die Tagung stand – wie die IKW 2024 – unter dem Motto "Neue Räume", und dieser Slogan zog sich durch das gesamte Programm. Nach der Begrüßung durch Friederike Ekol, der Geschäftsführerin des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses (ÖVA) zur IKW, konnten Teilnehmende jeweils fünf Minuten lang aus ihrem Alltag, ihren Räumen berichten. So startete die Tagung sehr lebendig: Zu hören waren unterschiedliche Statements: Berichte von der Arbeit in Institutionen und Organisationen, die Vorstellung von konkreten Projekten oder Aktionen oder auch ganz persönliche Einschätzungen.
"Neue Räume für Bildung in der Vielfaltsgesellschaft" war der Titel des anschließenden Auftaktpodiums. Was es dazu braucht, diskutierten die Staatssekretärin im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, Susi Möbbeck, der Sozialaktivist, Trainer und Autor Ali Can, Marianne Ballé Moudoumbou von der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen und der Leiter des nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitors, Dr. Cihan Sinanoğlu. Moderiert wurde die Runde von Monika Schwenke, Abteilungsleiterin beim Caritasverband für das Bistum Magdeburg und stellvertretende Vorsitzende des ÖVA.
Can machte dabei ein eher düsteres Szenario auf: Die AfD so radikal wie nie, die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach rechts verschoben mit Auswirkungen auf die politische Praxis. "Wir werden Massenabschiebungen sehen mit ganz schlimmen Szenen. Und wir brauchen einen geschützten Raum, um uns darauf vorzubereiten."
Um diesen Prozess zu verlangsamen und vielleicht sogar umzukehren, dazu kann ein Bildungssystem, das allen Kindern – egal ob mit familiärer Migrationsgeschichte oder ohne – eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht, ganz entscheidend beitragen, darin war sich die Runde einig. Community-basierte Kenntnisse müssten mehr wertgeschätzt werden, forderte Ballé Moudoumbou, und Möbbeck plädierte dafür, Vielfalt als Stärke wahrzunehmen: "Das ist in den vergangenen Jahren etwas zu kurz gekommen". Hoffnung macht ihr, "dass sich gerade ganz viele Menschen auf den Weg machen in dem Wissen, dass sie wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft selbst in die Hand nehmen müssen".
Migration sollte auf das Bildungssystem einen Modernisierungsdruck ausüben, sagte Sinanoğlu. "Dabei sollten wir aber nicht bei der Frage von Rassismus stehenbleiben, sondern zum Beispiel Schule für alle besser machen." Sein Fazit: "Um in der Bildung etwas zu verändern, braucht es knallharte Politik und Gesetze."
Auch einen "Raum zum Verlernen" müsse es geben, argumentierte Can. Schädliche Narrative und Assoziationen könnten auch wieder verlernt werden. Nur müsse das schneller gehen als deren Verfestigungen. "Beim Rassismus hat es 500 Jahre gedauert, bis er sich manifestiert hat, bis sich Markierungen und Stereotype entwickelt haben. Soll es noch mal so lange dauern, bis wir das wieder rauskriegen? Ich würde die Zeit gern verkürzen."
In der anschließenden Arbeitsgruppenphase widmeten sich die Teilnehmenden jeweils einem Thema intensiver. Unter anderem wurde diskutiert, wie Rassismus und Diskriminierung das Zusammenleben in demokratischen Räumen bedrohen und wie Allianzen für gesellschaftlichen Zusammenhalt geschlossen werden können. Eine andere AG ging der Frage nach, was in Kommunen für den Erhalt von Demokratie und Vielfalt getan werden kann. In weiteren Gruppen wurden Antisemitismus, sichere Zugangswege für Geflüchtete nach Europa und die Situation der Frauen in Afghanistan besprochen. Die Frage, wie innerhalb der Kirche über Rassismus gesprochen werden kann, war ebenso Thema einer AG wie die Diskussion über Möglichkeiten, auf kommunaler Ebene Räume für Vielfalt zu öffnen.
Zum Abschluss des ersten Tages stand eine Lesung mit Gespräch auf dem Programm. "…die DDR schien mir eine Verheißung" heißt das Buch, das Biografien von Migrant*innen in der DDR und Ostdeutschland zusammengetragen hat. Zwei von ihnen waren im Roncalli-Haus zu Gast. Dr. Moussa Dansokho berichtete, wie er 1982 als Student aus dem Senegal in der DDR ankam, um mit einem Stipendium sein Wirtschaftsstudium fortzusetzen – und am Flughafen erst einmal vergessen wurde. Er erzählte in durchaus heiteren Anekdoten vom Ankommen, vom Fremdsein, von einem Anpassungsdruck – schließlich wollte er sein Stipendium nicht verlieren – und auch von Rassismus in der damaligen DDR. "Nach der Wende wurde der Rassismus offener und häufiger", so Dansokho. Etwa an dem Tag, an dem er seine Promotion eingereicht hatte, sich bester Laune auf den Nachhauseweg machte – und unterwegs gleich zwei Mal auf übelste beschimpft und beleidigt wurde, sodass er am ganzen Körper zitternd zu Hause ankam.
Als seine Tochter einmal versuchte, sich ihre dunkle Hautfarbe "abzuschrubben" – andere Kinder hatten sie als "schmutzig" bezeichnet – beschloss Dansokho, etwas zu tun. Er begann, in Kindergärten über Vielfalt zu reden und erklärte, dass Kinder und alle Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilt werden sollten. Das tut der 68-Jährige heute weiterhin im Rahmen seines Engagements beim "Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt" und bei der "Servicestelle interkulturelles Lernen in Schule und Kita".
Nicht weniger spannend verlief der Lebensweg von Tatjana Schewtschenko, die 1980 aus der damaligen Sowjetunion in die DDR kam – zum Heiraten. Ihren Mann hatte sie schon zwölf Jahre zuvor bei einem Praktikum kennengelernt. In Dessau arbeitete die Chemieingenieurin in einer Magnetbandfabrik. Die Wende erlebte sie – wie Dansokho – eher distanziert als euphorisiert. "In diesem Land bin ich ja nicht aufgewachsen. Aus dieser Entfernung heraus habe ich womöglich in der DDR mehr Gutes gesehen und mehr positive Eindrücke gehabt als manche Bürgerinnen und Bürger des Landes", sagt Schewtschenko. "Fremde Wende" heißt das Kapitel passenderweise im Buch.
Ihr Betrieb wurde in eine Gesellschaft für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) umgewandelt, in der es verschiedene Projekte gab. "Uns wurde gesagt, denkt euch etwas aus", erinnert sich Schewtschenko. Das machten sie und ihre Kolleginnen und gründeten in Dessau die erste Beratungsstelle für ausländische Mitbürger und Familienangehörige. Später wurde daraus das Kommunikationszentrum für ausländische Frauen und Familienangehörige – der Beginn eines jahrzehntelangen Engagements in Frauenprojekten, für das Schewtschenko 2016 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde.
Der zweite Tag startete mit einer bewegenden Morgenandacht in der Kapelle des Roncalli-Hauses, in der Petra Albert, Dr. Friederike Maier und Mamad Mohamad unter anderem Gedanken zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vortrugen, der sich an diesem 24. Februar zum zweiten Mal jährte.
Im Plenum folgte ein aktivierendes Format, quasi ein intellektueller Frühsport. "Sprechen Sie den ersten Menschen an, den sie sehen und noch nicht kennen und tauschen Sie sich mit ihr oder ihm fünf Minuten über für Sie relevante Themen sowie offene Fragen aus" – das war die Aufgabe, und so verwandelte sich der Saal in einen großen offenen Raum des Austausches. Nach zwei Runden waren alle wach und bereit für eine Diskussionsrunde, die Spannung und interessante Einblicke versprach.
"Neue Räume verteidigen: Für ein demokratisches Europa" – darüber sprachen der Migrationsforscher und Vorsitzende der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI), Gerald Knaus, der PRO ASYL-Mitbegründer Günter Burkhardt, der auch Mitglied im ÖVA ist, und erneut Monika Schwenke, Abteilungsleiterin beim Caritasverband für das Bistum Magdeburg und stellvertretende Vorsitzende des ÖVA. Sie war kurzfristig eingesprungen, weil gleich zwei eigentlich vorgesehene Podiumsteilnehmerinnen krankheitsbedingt absagen mussten. Einen freien Stuhl konnten Teilnehmende aus dem Podium besetzen, um sich in das Gespräch einzubringen. Die Moderation übernahm Kerstin Düsch-Wehr vom Katholischen Büro Berlin und ebenfalls Mitglied im ÖVA.
In der Beschreibung des Status quo waren sich Knaus und Burkhardt einig: Die Europäische Menschenrechtskonvention wird an den EU-Außengrenzen permanent verletzt, etwa durch die libysche Küstenwache, die Geflüchtete – auch in internationalen Gewässern und mit Duldung der EU – aufgreift und zurückbringt nach Libyen, wo sie in Lagern festgehalten werden, in denen schlimmste Zustände herrschen. "Alle europäischen Regierungen kennen die katastrophalen Folgen dieser Politik mit Libyen – und dennoch wird sie weitergeführt. Das macht es für Rechtspopulisten und -extremisten natürlich leicht zu sagen: Ihr seid Heuchler", konstatierte Knaus.
Dass sich an dieser Politik dringend etwas ändern muss, auch da stimmt der Migrationsforscher mit Burkhardt überein. Beim Weg dorthin allerdings, treten deutliche Unterschiede zutage. Knaus ist überzeugt, dass es möglich ist, Asylverfahren in sicheren Drittstaaten durchzuführen, in denen auch die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention gelten. Geeignete Mittel dafür sind für ihn etwa sinnvolle Abkommen, die auch legale Wege der Migration festschreiben.
Für Burkhardt ist das "Nirvana-Land", ein Land, das es nicht gibt. Mit Blick auf das Abkommen, das Italien mit Albanien geschlossen hat, fragte er: "Gibt es dort denselben Rechtsschutz, der auch für uns gilt? Wer entscheidet, wer als besonders schutzbedürftig gilt und deshalb nach Italien und nicht nach Albanien gebracht wird? Und wo soll das passieren, in den Schlauchbooten? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das praktisch funktionieren soll. Menschenrechte gelten individuell". In dieser Situation frage er sich, "wie man als CDU ein Grundsatzprogramm verabschieden kann, das europäische Grundrechtsstandards außer Acht lässt".
Schwenke betonte in einer "persönlichen Note", dass jeder, der sich als europäischer Bürger fühle, sich auch in Europa für Demokratie engagieren müsse. "Ich nehme wahr, dass wir uns vor der Europa-Wahl viel zu wenig mit dieser Ebene beschäftigen." Und zum Begriff "irreguläre Migration", der ebenfalls kontrovers diskutiert wurde, merkte sie an: "Niemand flüchtet ohne Grund."
Ein fester Programmpunkt jeder IKW-Vorbereitungstagung ist die Vorstellung der Motive und Materialien für das jeweilige Jahr. Das übernahm Steffen Blatt, Referent für Öffentlichkeitsarbeit in der ÖVA-Geschäftsstelle. Er präsentierte die Plakat- und Postkartenmotive für das Jahr 2024 und die Materialien, die wieder in einem Aktionsumschlag zur Verfügung gestellt werden.
Ebenso wurde das Kunstwerk "Der gesprengte Ring" vorgestellt, das zum IKW-Auftakt 2020 in München kreiert wurde und das weiterhin ausgeliehen werden kann. Zudem ist auf der IKW-Homepage ab sofort ein kostenloser Selbstlernkurs für Organisierende der Interkulturellen Woche zum Thema Öffentlichkeitsarbeit abrufbar.
Anschließend gab es Raum zur Vernetzung. Moderiert von Blatt und ÖVA-Geschäftsführerin Friederike Ekol konnten sich Engagierte zu Themen austauschen, die bei der Organisation einer IKW immer wieder auftauchen, zum Beispiel Öffentlichkeitsarbeit oder Finanzierung.
Damit war das offizielle Programm der Tagung absolviert, für einige Teilnehmende ging es aber noch weiter. Denn im Vorfeld hatte man sich für zwei weitere Angebote anmelden können. In einem Antirassismus-Workshop mit Ali Can ging es nach einer Einführung ins Thema in eine rassismuskritische Analyse. Danach wurde es schnell praktisch, als es um die Frage ging, was jeder gegen Rassismus tun kann.
Eine weitere Gruppe machte sich auf den Weg zu einer hybriden Geocaching-Safari durch Magdeburg. Dabei erlebten sie die Begegnung mit verschiedenen Religionen, Nationen und Sprachen, lauschten und lasen Geschichten über Magdeburger Legenden, etwa die Sage vom Teufel und dem Tartarenkönig.