Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte besonders stark getroffen. Das zeigt eine neue Studie des Forschungsbereichs Migration, Flucht und Integration (MFI) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Robert Bosch Stiftung GmbH. Im Fokus des Forschungsprojekts "Brennglas Corona" steht die Integrationsarbeit, die seit Beginn der Pandemie in den Kommunen geleistet wurde: in kommunalen Integrationsmanagements, Jobcentern und Integrationsbeiräten, in den Beratungseinrichtungen der Wohlfahrtsverbände oder durch ehrenamtliche Helfer:innen. Im Interview erläutern die Autorinnen Sonja Reinhold und Petra Bendel die Ergebnisse und die Handlungsempfehlungen, die sie aus ihren Erkenntnissen ableiten.
Bendel ist Leiterin des MFI und Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Reinhold ist Politik- und Rechtswissenschaftlerin und Projektmitarbeiterin am MFI.
Frau Prof. Bendel und Frau Reinhold, in der Studie "Brennglas Corona" haben Sie die Auswirkungen der Pandemie auf die kommunale Integrationsarbeit in Deutschland untersucht. Was sind Ihre zentralen Ergebnisse?
Prof. Petra Bendel: Die lokale Integrationsarbeit ist nach fast drei Jahren Corona-Pandemie und angesichts der Tatsache, dass viele Personen mit Migrationsgeschichte hinzukommen, so wichtig wie nie zuvor. Denn lokale Integrationsarbeit unterstützt die Personen, die gerade in Krisenzeiten auf Begleitung angewiesen sind. Wir haben aber festgestellt, dass sich die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen sehr stark negativ auf alle Bereiche kommunaler Integrationsarbeit ausgewirkt haben: Auf das Wohnen, die Bildung und den Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Teilhabe, insgesamt Unterstützungsangebote, den Zugang zu den Ämtern und natürlich auch auf den Zugang zu gesundheitlichen Leistungen. Und dieses gilt in ganz besonderem Maße noch einmal für schutzbedürftige Personen und für Personen in den Gemeinschaftsunterkünften.
Sonja Reinhold: Wir haben die paradoxe Situation beobachtet, dass während der Pandemie das Angebot an Unterstützungsangeboten massiv sank, gleichzeitig aber der Bedarf stark stieg. Vor allem der Bedarf an Beratungsangeboten, die durch diese schwere Phase helfen, war riesig. Auch im gesundheitlichen Bereich wäre ganz viel Hilfestellung notwendig gewesen, was den Zugang zu Infektionsschutzmaßnahmen betrifft, aber auch grundsätzlich den Zugang zu Ärzt:innen und Krankenhäusern. Fatalerweise führte die Pandemie aber dazu, dass Unterstützungsangebote vielerorts über längere Zeiträume einbrachen.
Welche Auswirkungen hatte das auf Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte?
Sonja Reinhold: Durch die Schließung der Ämter hatten beispielsweise Eltern große Schwierigkeiten, ihre neugeborenen Kinder bei den Standesämtern anzumelden. Dadurch konnten die Neugeborenen auch nicht bei den Elterngeldstellen und den gesetzlichen Krankenkassen angemeldet werden. Unsere Interviewpartner:innen haben uns berichtet, dass es deshalb zu einer Unter- oder auch Nichterfüllung medizinischer Ansprüche kam, weil die sogenannten U-Untersuchungen, die Voruntersuchungen für Neugeborene, von den Eltern nicht wahrgenommen werden konnten. Ein zweites brenzliges Beispiel war die Situation von Personen im Leistungsbezug. Da wurde uns von wirklich existenziellen Notständen berichtet, die eintraten, weil die Menschen einen so stark erschwerten Zugang zu Jobcentern und zu Ausländerbehörden hatten, dass die Gewährung von existenzsichernden Leistungen nicht mehr so funktionierte wie sie sollte. Das kann sehr schnell zu einer großen finanziellen Schieflage führen, die Menschen in prekären sozioökonomischen Verhältnissen auch nicht einfach so auffangen können.
"An der Integrationsaufgabe darf man auf keinen Fall sparen, denn da geht es letzten Endes um den gesellschaftlichen Zusammenhalt."
Welche Empfehlungen geben Sie den Kommunen an die Hand, um auf kommende Krisen besser vorbereitet zu sein?
Sonja Reinhold: Wir empfehlen auf der lokalen Ebene dringend, die Erreichbarkeit von Behörden besser zu gestalten, damit sie in Krisensituationen sichergestellt ist. Das betrifft vor allem solche Stellen, die ganz zentrale und existenzsichernde Bereiche verwalten, also die Jobcenter, die Ausländerbehörden und Standesämter. Für die digitale Erreichbarkeit haben wir in der Studie spezifische Kriterien definiert. Dazu zählen eine niedrigschwellige Kommunikation, Mehrsprachigkeit und Barrierefreiheit. Denn wir müssen online Behördendienstleistungen so gestalten, dass sie für alle Klient:innen funktionieren. Auf der anderen Seite müssen die Menschen auch die Möglichkeiten erhalten, digitale Angebote zu nutzen, zum Beispiel durch die Verfügbarkeit von Endgeräten und Internetverbindungen. Wir haben aber beobachtet, dass Erreichbarkeiten auch per Telefon oder in Präsenz immer noch wichtig sind und nicht komplett abgelöst werden sollten.
Petra Bendel: Wir haben insgesamt fünf große Handlungsfelder identifiziert: Da wäre die Erreichbarkeit der Verwaltung und das digitale Empowerment. Auch müssen strukturelle Benachteiligungen abgefedert werden. Es gilt zum Beispiel, die Lage in Gemeinschaftsunterkünften zu verbessern. Und dann müssen wir insgesamt die Bildungsbenachteiligung von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte in den Fokus nehmen. Deshalb sollten Bundesprogramme wie „Aufholen nach Corona“ oder auch die jetzt auf der Kippe stehenden Sprach-Kitas unbedingt fortgesetzt werden. Und insgesamt empfehlen wir, Netzwerke auszubauen.
Unsere wichtigste Empfehlung ist jedoch: Die Kompetenzen und Handlungsspielräume der Kommunen sollten ausgebaut werden. Wir müssen Kommunen resilienter machen, denn es werden weitere Krisen kommen. Wir gehen sogar so weit zu sagen, dass Integration, die im Moment eine in großen Teilen freiwillige Aufgabe der Kommunen ist, zu einer verpflichtenden Aufgabe der Kommunen werden sollte. Denn nur so können wir sicherstellen, dass sie personell und finanziell verlässlich mit den Ressourcen ausgestattet werden, die sie für diese wichtige Aufgabe brauchen. An der Integrationsaufgabe darf man auf keinen Fall sparen, denn da geht es letzten Endes um den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Interviews mit den Vertreter:innen der Kommunen fanden wenige Tage nach dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine statt. Wie war die Resonanz?
Sonja Reinhold: Zuerst dachten wir, die Personen, die in den Kommunen Integrationsarbeit leisten, hätten jetzt gar keine Zeit mehr für unsere Interviews. Aber im Gegenteil: Wir bekamen sehr viel Aufmerksamkeit für diese Studie. Die Interviewpartner:innen haben sich deshalb Zeit genommen, weil für sie das Thema sehr relevant ist und sie auch wirklich unzufrieden sind mit Situationen, die einfach nicht mehr tragbar waren.
"Die Dimensionen, über die uns berichtet wurde, haben uns dann doch bestürzt."
Ihre Studie macht deutlich, wie schwer die Krise viele Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte getroffen hat. Kam dieser Befund überraschend für Sie?
Sonja Reinhold: In der Sache waren wir nicht überrascht von den Erkenntnissen. Wir hatten befürchtet, dass die Auswirkungen sehr schwer waren. Aber die Dimensionen, über die uns berichtet wurde, haben uns dann doch bestürzt. Dass es so heftige, auch langfristige gesundheitliche Auswirkungen auf die Betroffenen haben kann, das ist schon sehr extrem. Vor allem die Situation in den Gemeinschaftsunterkünften, die ja auch außerhalb des Pandemiekontextes oft herausfordernd ist, war kritisch. Ganz besonders war die Lage für Kinder, denn sie hatten oft nicht mal eine Internetverbindung oder ein Endgerät, um überhaupt am Schulunterricht teilnehmen zu können.
Petra Bendel: Überrascht hat mich, dass durch die Schließung der Ämter tatsächlich gesundheitsgefährdende Situationen für Neugeborene in Kauf genommen wurden. Ebenso wie die Inkaufnahme existenzieller Not für Personen im Leistungsbezug. Das sind schon sehr weitreichende Auswirkungen. Solche grundlegenden Zugänge hätte man sicherstellen müssen.
Über die Studie
In der Studie "Brennglas Corona – Lokale Integrationsarbeit in Zeiten einer globalen Pandemie" wurden die Erfahrungen und Bedarfe kommunaler, integrationspolitisch relevanter Akteur:innen im Zuge der Corona-Pandemie identifiziert und auf dieser Basis Handlungsempfehlungen formuliert. Die Daten zur Studie wurden von Anfang März bis Ende Mai 2022 in sieben Kommunen erhoben. Insgesamt wurden rund 30 teilstrukturierte Interviews mit den für Integration und Teilhabe zuständigen Stellen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft geführt. Die teilnehmenden Kommunen wurden nach wissenschaftlichen Kriterien aus insgesamt 23 Bewerbungen ausgewählt. Ziel war ein möglichst heterogenes Set an Kommunen. Die Studie wurde von Sonja Reinhold und Prof. Petra Bendel erstellt und vom Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration (MFI) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und der Robert Bosch Stiftung GmbH herausgegeben.
Claudia Hagen ist Referentin im Bereich Digitale Kommunikation und Storytelling bei der Robert Bosch Stiftung.