Antiziganismus in unserer Gesellschaft und was wir daran ändern können

Das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Großen Tiergarten in Berlin.
Antiziganismus in unserer Gesellschaft und was wir daran ändern können
Sinti und Roma sind eine stark abgelehnte Minderheit in Deutschland – Gerade deshalb sind sie ein Thema für die Interkulturelle Woche
Dotschy Reinhardt

Sinti und Roma haben ein gemeinsames Ursprungsland: Indien. Aber alle Gruppen leben seit Jahrhunderten in ihren angestammten Ländern. Die ersten deutschen Sinti wurden 1647 im Hildesheimer Grundbuch eingetragen. Deutsche Roma kamen gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert nach Deutschland und leben – wie die deutschen Sinti – meist unbehelligt und gut integriert als deutsche Staatsbürger*innen in den verschiedenen Bundesländern. Die "Burgenland-Roma" leben ebenfalls seit mehreren Jahrhunderten in Österreich. Das gilt auch für die italienischen Sinti oder die englischen Romanichal. Auch die rumänischen und bulgarischen Roma verbindet eine lange Geschichte mit ihren Ländern.

Die Förderung, Erhaltung und Freiheit von Kultur, Sprache und Identität der deutschen Sinti und Roma sind durch das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten gewährt. Neben den deutschen Sinti und Roma sind die Sorben, Friesen und Dänen als Minderheiten in den Bundesländern anerkannt.

Roma und Sinti sind historisch gewachsene Minderheitsgruppen, die sich über ihre Heterogenität als solche bezeichnen. Die acht bis zwölf Millionen Sinti und Roma bilden zusammen die größte Minderheit Europas. Die Muttersprache beider Gruppen nennt sich "Romanes", dessen Sprachwurzeln im Sanskrit liegen. Allerdings spiegeln auch hier die zahlreichen Dialekte die Heterogenität der Gruppen wider.

"Roma und Sinti gehören zu jenen Volksgruppen, welche die europäische Kulturlandschaft maßgeblich mitgeprägt haben."

Roma und Sinti gehören zu jenen Volksgruppen, welche die europäische Kulturlandschaft maßgeblich mitgeprägt haben. Vielen ist beispielsweise gar nicht bewusst, dass der Flamenco von den Cale nach Spanien importiert und dort zum kulturellen Aushängeschild Spaniens wurde. Der europäische Jazz wurde von einem belgischen Manouche mit deutschen Wurzeln etabliert, dem Sinto Django Reinhardt. Sein musikalisches Erbe ist fester Bestandteil des Savoir-Vivre und gehört zu Frankreich und Paris wie der Eiffelturm oder der Champagner.

Wichtige Bildungsarbeit: Ein Zeitzeuge spricht bei einem Workshop mit Schülerinnen und Schülern der Carl-Theodor-Schule in Schwetzingen. Foto: Nicola Höfs

Zudem gab es aus den Reihen von Sinti und Roma Würdenträger, die ihrem Land treue Dienste leisteten. Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Musiker*innen wie Philomena Franz, Ceija Stoika oder Mateo Maximoff; der aus London stammende und weltweit anerkannte Professor für Linguistik, Ian Hancock, der Gitarrist Carlos Santana, Robert Plant (Led Zeppelin) oder gar der große Charlie Chaplin sowie Rita Hayworth, der portugiesische Fußballer Ricardo Quaresma, die Schauspieler Michael Caine oder Bob Hoskins – sie alle sind und waren Sinti*ze und Rom*nja oder haben zumindest solche Wurzeln. Die verschiedenen Gruppen von Sinti und Roma bilden in ihrer Vielfalt und ihrem kulturellen Reichtum die Diversität Europas per se. Sie bereichern ihre Länder.

"Klischees und Feindbilder sind auf Fremdbestimmung zurückzuführen."

Trotzdem herrscht in der Gesellschaft häufig allenfalls Halbwissen vor über die Bürger*innen, die seit Jahrhunderten in ihren angestammten Ländern integriert mit der Mehrheitsgesellschaft zusammenleben. Klischees und Feindbilder sind auf Fremdbestimmung zurückzuführen und auf den Antiziganismus, der fest in der europäischen Rassenideologie verwurzelt ist. So kämpfen heute noch Angehörige dieser Minderheiten gegen Stigmatisierung und Fehlinterpretationen über ihr Leben und ihre Kultur an.

Es verwundert nicht, dass Sinti*ze und Rom*nja ihre Herkunft verschweigen – auch aus Angst davor, Diskriminierung in wichtigen Lebensbereichen wie Beruf, Wohnen, Gleichbehandlung bei Behörden und Bildung erfahren zu müssen.

Das Trauma der Verfolgung und der Massenvernichtung im Nationalsozialismus sitzt immer noch sehr tief in den Angehörigen dieser Minderheiten. Mindestens 500.000 fielen den Nazis zum Opfer. Nach dem Krieg blieb ihnen die Anerkennung als NS-Opfer aus rassistischen Gründen bis 1982 verwehrt und damit auch finanzielle Hilfe und Wiedergutmachung.

Obwohl es auf dem langen Weg zur Anerkennung und Wiedergutmachung Solidarität von Seiten der Politik gab, sind das Misstrauen und die Angst davor, erneut verfolgt und ausgegrenzt zu werden, tief verwurzelt. Und die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland bestätigen diese Befürchtungen. Die Hetzreden von Populisten und Rechtsradikalen gegen alle, die nicht der eigenen Vorstellung von "Deutschsein" entsprechen, die auf nichts anderem als Hitlers Blut-und-Boden-Ideologie basiert, finden mittlerweile in allen Bevölkerungsschichten Zuspruch und werden mit Wählerstimmen belohnt. Geistige Brandstifter unterstellen Eingewanderten aus Rumänien und Bulgarien Kriminalität und Sozialbetrug. Mit Sorge sehen wir diese Zunahme der verbalen Gewalt auch vor dem Hintergrund, dass Rassisten schon einmal dieses Land ins Elend stürzten. Dieser Rassismus betrifft uns alle. Es mag sein, dass Minderheiten wiederholt als erste darunter leiden – eine unfreie Gewaltherrschaft jedoch trifft jeden Menschen in Deutschland.

"Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit den Kirchen"

Die Herausforderungen sind groß, aber es gibt Frauen und Männer, die sich dieser Verantwortung stellen und sich aktiv für Menschenrechte und gegen Rassismus einsetzen. Bündnisse, Netzwerke, Arbeitsgruppen und die daraus entstehenden Kooperationen sind ein gutes Werkzeug für den Austausch zwischen der Zivilgesellschaft und der Politik und eine solidarische Arbeit.

Ein gutes Beispiel dafür ist der 2017 initiierte Arbeitskreis "Sinti-Roma-Kirche" (AKSRK), an dem sich sowohl religionsübergreifende Kirchenvertreter*innen aller Bundesländer als auch Vertreter*innen der Sinti und Roma Community beteiligen. Vorausgegangen war 1999 die Gründung des Arbeitskreises "Sinti/Roma und Kirchen in Baden-Württemberg" durch Prof. Dr. Andreas Hoffmann-Richter. Er wurde ins Leben gerufen, "um die Probleme von Antiziganismus und Diskriminierung in den evangelischen und katholischen Gemeinden in Baden-Württemberg ins Bewusstsein der Kirchen und ihrer Mitglieder zu heben".

Der bundesweite AKSRK trifft sich auf der Basis einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe einmal jährlich zu einer Tagung, um mögliche Aktionen und Kooperationen auszuloten, aber auch um Unausgesprochenes auf den Tisch zu bringen und sich mit Missständen auseinandersetzen, etwa bei der Aufarbeitung der Beteiligung der Kirchen am Nationalsozialismus und der damit einhergehenden Verfolgung der Sinti und Roma. Gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, braucht Transparenz und einen geschützten Ort, um auch schwierige Themen zu besprechen. Aber der AKSRK wirkt auch nach außen: So werden Veranstaltungen organisiert, wie beispielsweise der Gottesdienst und das Konzert zum Gedenken des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz, der in Zusammenarbeit mit vielen Beteiligten Anfang des Jahres im Berliner Dom stattfand.

Gemeinsam mit dem Synagogal Ensemble Berlin musizierten die Roma und Sinti Philharmoniker am 26. Januar 2020 im Berliner Dom zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

Ein wichtiges Datum der europäischen Roma-Menschenrechtsbewegung ist der 8. April 1971. An diesem Tag trafen sich Roma zum ersten Welt-Roma-Kongress in London. Ziel war es, die soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für Roma langfristig durchzusetzen. Dort wurden die Hymne "Gelem, Gelem", die eigene Flagge und die Einigung auf die Selbstbezeichnung "Roma" festgelegt. Seitdem wird in vielen Ländern am 8. April der "Roma Day" begangen.

"Die Roma- und Sinti-Verbände sind aktiv und kreativ in ihren Projekten."

Eine emanzipierte und selbstbestimmte Generation von Sinti und Roma ist seither herangewachsen, die an der Mitgestaltung ihres Landes interessiert ist und die für demokratische Werte wie Freiheit, Gleichbehandlung und Menschenwürde als Aktivist*innen oder Privatpersonen eintritt. Sie engagieren sich in Initiativen wie Initiative Rromnja, einem Zusammenschluss von Berliner Roma- und Sinti-Frauen, die nicht länger hinnehmen wollen, dass die Ablehnung von Roma und Sinti, Feindseligkeiten und Gewalt gegen Roma und Sinti verschwiegen, bagatellisiert oder gar gerechtfertigt werden, oder dem Sinti Power Club, der jugendliche Sinti in Ravensburg fördert.

Die Roma- und Sinti-Verbände sind aktiv und kreativ in ihren Projekten. Mit thematisch gesetzten Kinoabenden, Lesungen, Konzerten, Podiumsdiskussionen, Jugendfreizeiten und Bildungsausflügen zu verschiedenen Einrichtungen sollen Begegnungsorte, Kommunikation und Möglichkeiten zum Netzwerken zwischen Sinti und Nicht-Sinti geschaffen werden. Zudem werden Publikationen zum Thema veröffentlicht sowie Seminare und Tagungen abgehalten. All dies sind Formate, die sich gut für die Organisation der Interkulturellen Woche vor Ort eignen. Dabei ist es wichtig, die Dringlichkeit einer Aufnahme des Themas in die Interkulturelle Woche zu erkennen und diesem Rassismus genau so viel Beachtung wie anderen menschenfeindlichen Einstellungen zu schenken.

Dieser Text ist erschienen im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2020, das Sie hier anschauen können.

Weitere Informationen

Dotschy Reinhardt
Foto: Uwe Hauth

Dotschy Reinhardt ist Musikerin und Autorin sowie Vorsitzende des Landesrates der Roma und Sinti Berlin-Brandenburg e.V.

Kontakt: dotschy-reinhardt@web.de