Geflüchtete sind von Corona besonders betroffen

Die Corona-Pandemie hat Auswirkungen auf das Leben fast aller Menschen. Besonders betroffen sind Geflüchtete, auch in Deutschland. Foto: Bayr. Flüchtlingsrat
Geflüchtete sind von Corona besonders betroffen
Die Folgen der Pandemie für die Einwanderungsgesellschaft
Birgit Glorius

Dieser Beitrag möchte nachspüren, wie es den seit 2015 in Deutschland lebenden Geflüchteten heute geht, und welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf den Alltag dieser Menschen hat.

Wohnsituation

Der erste Blick ist auf die Wohnsituation von Geflüchteten gerichtet: Viele sind in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Das trifft oft auch auf jene zu, die bereits einen Schutzstatus erhalten haben, da sie auf den angespannten Wohnungsmärkten vieler Städte Schwierigkeiten haben, eine geeignete Wohnung zu finden. 2018 lebten noch rund 440.000 als so genannte "overstayer" in Gruppenunterkünften. Damit sind viele Geflüchtete besonderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt, da die gemeinsam genutzten Räumlichkeiten es schwermachen, auf Abstand zu bleiben. Immer wieder kommt es zu Corona-Ausbrüchen in Gemeinschaftseinrichtungen, werden Bewohner*innen wochenlang unter Quarantäne gestellt. Dies hat erhebliche soziale und psychologische Effekte, wie eine Befragung des Deutschen Berufsverbandes Soziale Arbeit bereits im April 2020 feststellte. Berichtet wurde von Gereiztheit, Angst, zunehmenden Konflikten zwischen den Bewohner*innen, erhöhtem Suchtmittelkonsum bis hin zu Depressionen und Retraumatisierungen.

Integration in den Arbeitsmarkt

Die Corona-Pandemie hat auch Auswirkungen auf die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Diese war bis zum Frühling 2020 gut vorangekommen; eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verzeichnete rasche Integrationserfolge der seit 2015 Angekommenen. Im Dezember 2018 war über ein Drittel von ihnen regulär beschäftigt, und für 2020 war eine Beschäftigungsquote von 50 Prozent prognostiziert worden. Aufgrund der Corona-Pandemie verloren jedoch viele Geflüchtete ihre Stelle, seither wächst die Arbeitslosigkeit. Das resultiert auch aus der Tatsache, dass Geflüchtete häufig in Branchen arbeiten, die von der Pandemiepolitik besonders betroffen waren, zum Beispiel Gastgewerbe, aber auch, dass sie vielfach ungünstige Vertragsbedingungen haben, etwa durch die Einstellung über Zeitarbeitsfirmen.

Auch insgesamt zeigt ein Blick auf die Beschäftigungsverhältnisse von Einwander*innen und ihren Nachkommen in Deutschland, dass die Gleichstellung mit der nicht-migrantischen Bevölkerung noch weit entfernt ist. Migrant*innen sind überdurchschnittlich häufig in Branchen wie Reinigung, Lebensmittelproduktion oder Altenpflege zu finden, ebenso wie unter den Bezieher*innen niedriger Einkommen. Im Kontext der Corona-Pandemie erhöht dieser Befund ihre Vulnerabilität: Die genannten Beschäftigungsfelder erlauben kein Home Office, und finanzielle Einbußen durch Kurzarbeit oder Arbeitsverlust schlagen bei ohnehin niedrigen Einkommen besonders stark zu Buche.

Bildung

Eine weitere "Baustelle", die sich durch die Corona-Pandemie nicht nur in Bezug auf vulnerable Gruppen offenbart hat, ist der Bildungsbereich. Nicht nur mangelt es hier an so basalen Dingen wie Seife und Warmwasser auf den Schultoiletten oder Fenstern, die sich zum Lüften öffnen lassen, sondern auch an WLAN im Schulgebäude oder an digital affinen Lehrkräften. Es mangelt überdies und vor allem an sozialer Chancengleichheit. Die Ergebnisse von internationalen Vergleichsstudien weisen Deutschland zuverlässig einen Spitzenplatz im Bereich der sozialen Selektivität zu, unter anderem bedingt durch die frühzeitige Auffächerung der Bildungsgänge sowie durch das nach wie vor dominante Modell der Teilzeitschule, verbunden mit der hohen Bedeutung elterlicher Unterstützung.

Dies hat Folgen, vor allem für Kinder aus einkommensschwachen und weniger hoch gebildeten Haushalten – darunter viele Familien mit Migrationsbiografie. Während 61 Prozent der 15-Jährigen aus der höheren sozialen Schicht das Gymnasium besuchen, tun das nur 16 Prozent der Jugendlichen aus der niedrigsten sozialen Schicht. Kinder mit Migrationsbiografie sind dreimal häufiger an Hauptschulen anzutreffen als Kinder ohne Migrationsbiografie. Letztere sind wiederum doppelt so häufig auf dem Gymnasium anzutreffen wie Kinder aus Einwandererfamilien. Die seit über einem Jahr stattfindenden Home Schooling-Episoden, die vielerorts eher als Unterrichtsausfall bezeichnet werden müssen, reißen nachhaltige Bildungslücken und verstärken die Chancenungleichheit im Bildungsbereich, wenn – wie bis dato – das Aufholen von Lernlücken vor allem dem privaten Engagement überlassen bleibt.

Warum ist diese Situation gerade für neu eingewanderte Menschen und deren Integrationsprozess so problematisch? Die oft beengten Wohnverhältnisse zum Beispiel von geflüchteten Familien lassen keine ruhige Arbeitsumgebung für Home Schooling zu, vielfach fehlt die technische Ausstattung oder der stabile Internetzugang, vor allem in Gemeinschaftsunterkünften. Die Teilnahme an digitalen Unterrichtsformaten wird auch durch begrenzte Mediennutzungserfahrungen behindert, und durch geltende Kontaktverbote und Distanzregeln können analoge Unterstützungsangebote oft nicht greifen.

Höchst unterschiedliche Lernumgebungen

Befragungen zum Home Schooling von Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sowie Schüler*innen in Sammelunterkünften für Geflüchtete zeigen die Divergenzen der Lernumgebungen deutlich auf: Unter den Schüler*innen ohne Migrationshintergrund verfügten drei Viertel über einen festen Arbeitsplatz im eigenen Zimmer, die überwiegende Mehrheit hatte Zugriff auf einen Computer oder ein Laptop. Im Vergleich dazu hatten weniger als 30 Prozent der Kinder in Sammelunterkünften ausreichend Platz für Home Schooling, und weniger als 20 Prozent hatten Zugang zu einem Computer. Weniger als 30 Prozent unter ihnen erhielten Unterstützung bei den Hausaufgaben, während die Schüler*innen ohne Migrationshintergrund ein breites Unterstützerfeld nannten, wobei die Mütter mit rund 84 Prozent die häufigsten Ersatzlehrkräfte darstellten. Auch die Fortschritte im Erlernen der deutschen Sprache, die vor allem durch kontinuierliche Sprachpraxis gesichert werden, sind für neu Eingewanderte durch die Corona-Pandemie in Gefahr.

Ehrenamtliche Arbeit muss in Zeiten der Pandemie neu gedacht werden

Gerade in Hinblick auf die soziale Integration sind non-formale Bildungsangebote (etwa durch Vereine, Jugendzentren etc.) sowie informelle Begegnungsorte (zum Beispiel in Form von Begegnungscafés) von großer Bedeutung. Dort ergeben sich auch jenseits der Integrationsstrukturen durch Arbeitsmarkt oder formalen Bildungsbereich Begegnungsmöglichkeiten, welche die Teilhabe von Migrant*innen und das Zusammenleben in Vielfalt stärken. Auch diese Angebote sind von den Pandemie-Bestimmungen betroffen. So sind (oder waren) die meisten Vereinsräume, Gemeindehäuser oder Mehrgenerationenhäuser geschlossen. Kontakte werden in den digitalen Raum verlagert, was spezifische materielle und sprachliche Ressourcen aufseiten der Nutzer*innen voraussetzt. Ehrenamtliche Arbeit muss unter diesen Bedingungen neu gedacht werden, zumal die Hauptakteursgruppe im Bereich des Ehrenamtes aus älteren Menschen besteht, die nicht zu den "Digital Natives" gehören.

All diese Probleme werden uns durch das Jahr 2021 hindurch begleiten. Was bedeutet das für die Migrationssozialarbeit, Kirchengemeinden, oder das Ehrenamt?

Ich sehe vor allem zwei Bereiche, auf die ein besonderes Augenmerk gerichtet werden sollte: Zum einen plädiere ich für die nachdrückliche Nutzung von digitalen und analogen Freiräumen für die Fortführung von Begegnung und dem Lernen voneinander und miteinander. Im digitalen Bereich bedeutet dies maximales digitales Empowerment, und zwar nicht nur der eigenen haupt- oder ehrenamtlichen Mitarbeitenden, sondern auch der Nutzer*innen. Diese sollten befähigt werden, den digitalen Raum zur Artikulation ihrer Bedürfnisse selbständig zu nutzen und zu gestalten. Entsprechende Angebote für Migrant*innen sollten intersektional gedacht werden, das heißt das Zusammenfallen von verschiedenen Eigenschaften, welche die Nutzung von Angeboten beeinflussen (Alter, Geschlecht, materielle Ausstattung, Sprachkenntnisse, Digitalkenntnisse), muss berücksichtigt werden.

"Platz nehmen" im öffentlichen Raum

Im analogen Bereich plädiere ich für die Fokussierung auf Freiluftangebote. Ein internationales Begegnungscafé kann auch als Picknick im Park organisiert werden, Sprachunterricht bei einer gemeinsamen Wanderung, individuelle Beratung funktioniert gut beim Spazierengehen. Auch religiöse Angebote müssen nicht immer in geschlossenen Räumen stattfinden. Neben der Möglichkeit, derartige Angebote corona-kompatibel zu gestalten, kommt auch die stärkere Sichtbarkeit von Migrant*innen durch ihre "Platznahme" im Raum gewinnbringend hinzu. Auch das ist als eine Form des Empowerment und der Normalisierung von gesellschaftlicher Vielfalt zu verstehen. Genau das ist eines der Ziele der Interkulturellen Woche – und daher kann sie hier mit ihren vielfältigen Aktions- und Veranstaltungsformen einen wichtigen Beitrag leisten.

Reformbedarf ansprechen und auf Veränderungen pochen

Der zweite Aspekt betrifft das Politische: Eine Krisensituation ist von jeher dazu geeignet, Besitzstände zu hinterfragen und Althergebrachtes über Bord zu werfen. Institutioneller Wandel vollzieht sich in Deutschland oft quälend langsam, und jetzt wäre der Zeitpunkt, um Reformbedarfe in Bezug auf die Integration von Migrant*innen – was häufig institutionalisierte Querschnittsprobleme sind – anzusprechen und auf Veränderungen zu pochen.

Wieso ist es nicht innerhalb eines Pandemiejahres gelungen, jedes Schulkind in Deutschland mit einem corona-konformen Bildungsangebot auszustatten, das seinen individuellen Bildungserfolg sicherstellt? Weshalb wird der Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete und die Anerkennung von ausländischen Bildungsqualifikationen nicht maximal flexibilisiert, um soziale Problemlagen möglichst zu verhindern? Wieso scheitern gesellschaftliche und politische Partizipationsmöglichkeiten in Deutschland immer wieder an der Sprache? Könnten wir als Gesellschaft nicht mehr Offenheit entwickeln, etwa hinsichtlich der Bedeutung von formalen Bildungskarrieren und -zertifikaten für die berufliche Partizipation? Oder hinsichtlich des flexibleren Umgangs mit uns schützenden, aber eben auch einengenden Regulierungen (die zum Beispiel Unterricht im Freien oder die freie Auswahl von Lern- und Kommunikationssoftware im Schulbereich verhindern), hinsichtlich mehrsprachiger Kommunikationsformen und der Überbrückung sprachlicher Defizite auch im professionellen Kontext?

Würden wir dies schaffen, könnten wir der derzeitigen Pandemie mit mehr Gelassenheit begegnen und gemeinsam gestärkt daraus hervorgehen.

Weitere Informationen

Birgit Glorius
Foto: privat

Prof. Dr. Birgit Glorius ist Geographin und Professorin für Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der TU Chemnitz. In ihren Forschungsprojekten und Publikationen betrachtet sie aktuelle Phänomene der Migration und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Kontakt: birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de