"Familien öffnen ihre Herzen und bieten ein Zuhause"

Die Malerin und Fotografin Faieqa Sultani (vorne rechts) musste aus Afghanistan fliehen. Mit ihrem Ehemann und dessen Eltern kam in Landsberg am Lech in einer Gastfamilie unter. Jetzt sind die beiden in ihre erste eigene Wohnung umgezogen.
"Familien öffnen ihre Herzen und bieten ein Zuhause"
Wie zwei deutsche Journalisten Geflüchteten aus Afghanistan beim Ankommen helfen
Niklas von Wurmb-Seibel

Sieben Jahre ist es her, dass wir für ein Jahr in Kabul gelebt haben. Wir drehten Filme über junge Friedensaktivist:innen und Versäumnisse der NATO-Truppen beim Abzug, schrieben Reportagen und ein Buch. Viele Menschen, die sich damals in Filmen von uns exponierten oder für uns arbeiteten, entschieden sich aktiv, in Kabul zu bleiben: Sie wollten ihr Land in eine progressivere, friedliche Zukunft führen und Veränderung gestalten. Viele ließen Gelegenheiten verstreichen, das Land zu verlassen.

Dann kamen im August 2021 die Taliban zurück an die Macht.

Seither stehen unsere Telefone nicht mehr still. Erst Mitte Oktober wussten wir sicher: Deutschland nimmt fast 100 Menschen auf, die durch unsere Filme in Gefahr waren oder die für uns gearbeitet hatten, etwa als Übersetzer:innen. Sie hatten Glück – es gibt Zehntausende, die genauso dringend Schutz benötigen und ihn bisher nicht bekommen.

Keine*r musste auch nur einen einzigen Tag in einem Lager verbringen

Nach und nach gelangten acht dieser Familien nach Deutschland und wir wollten, dass alle schnell hier ankommen können, dass sie mit Sprachkursen beginnen, ein Netzwerk aufbauen, an abgerissene Träume anknüpfen und sich ein Leben aufbauen können. Was dem am meisten entgegensteht, das wussten wir: Wenn sie langfristig in Sammelunterkünften leben müssen. Diese Lager sind Orte, die isolieren, die Kraft zehren und Hoffnung rauben. Orte, die von Anfang an sortieren, trennen, abspalten und Kontakt unmöglich machen; die verhindern, dass Menschen in einer Stadt auf natürlichem Weg zueinander finden.

Also entschieden wir, Gastfamilien zu suchen. Es klappte jedes Mal.

Die Malerin und Fotografin Faieqa Sultani (2. v. l.) musste aus Afghanistan fliehen. Mit ihrem Ehemann und dessen Eltern kam in Landsberg am Lech in einer Gastfamilie unter. Jetzt sind die beiden in ihre erste eigene Wohnung umgezogen.
Der afghanische Schauspieler Edris Fakhri und seine Frau Zarah Fakhri sind im August 2021 mit Hilfe des französischen Militärs evakuiert worden und konnten in Ludwigsburg neu anfangen, wo Fakhri an der Filmakademie und der Akademie für Darstellende Kunst
Maisam, Mahdia, Maryam und Milad wurden mit ihren Eltern in der Kommunität Schloss Beuggen aufgenommen. Die beiden älteren Kinder konnten schon nach wenigen Tagen in die Schule gehen.

So musste Keine*r auch nur einen einzigen Tag in einem Lager verbringen. Manche hielten nach drei Wochen ihren Aufenthaltstitel in den Händen. Ein Mädchen wurde an ihrem fünften Tag hier eingeschult, in einer regulären Grundschulklasse. Eine Familie bezog noch in der ersten Woche nach ihrer Ankunft eine eigene Wohnung. Ein Ehepaar, die in ihrem Leben drei Jahre formale Bildung genossen, begannen an ihrem zweiten Montag einen Sprachkurs – für zwei Jahre gehen sie nun jeden Vormittag zur Schule und lernen begeistert.

Mehr Aufnahmen führen nicht zu weniger, sondern zu mehr Aufnahmebereitschaft

Es entstand ein selbstorganisiertes Gastfamilien-Programm – Familien öffnen ihre Herzen und bieten ein Zuhause; zusätzlich helfen in jeder Stadt Freiwillige bei Behördenterminen, beim Erkunden der Stadt, beim Fußfassen – sie kochen gemeinsam, fahren ans Meer oder gehen wandern. Für jede Familie füllt außerdem ein kleines Team, verstreut in der Republik, aus der Ferne hunderte Seiten Behördenanträge aus oder durchforstet Wohnungsportale nach passenden Angeboten.

Mehr als einmal hörten wir den Satz: "Danke, dass wir mitmachen dürfen, das ist ein Geschenk." Auch für uns ist es ein Geschenk, von so viel Kompliz*innenschaft umgeben zu sein. So sehr, dass wir dafür werben wollen, die übergangsweise Unterbringung in Gastfamilien zum Prinzip zu machen. Das entlastet den Staat und empfängt neu Ankommende in der Mitte der Gesellschaft. Und diese Gesellschaft, da sind wir sicher, verspürt in der Folge mehr Interesse und Bereitschaft, weitere Menschen aufzunehmen. Es wirkt nur auf den ersten Blick wie ein Paradox: Mehr Aufnahmen führen nicht zu weniger, sondern zu mehr Aufnahmebereitschaft – weil man merkt, dass es funktioniert und bereichert.

Wer das Gastfamilien-Programm unterstützen oder ein eigenes aufbauen möchte, kann sich melden per E-Mail an schenck.niklas@gmail.com.

Weitere Artikel zu Themen, die für die Interkulturelle Woche relevant sind, finden Sie im aktuellen Materialheft 2022, das Sie hier bestellen können.

Weitere Informationen

Ronja und Niklas von Wurmb-Seibel
Foto: Brot & Zwiebel Productions

Niklas Schenck ist ein mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilmer und investigativer Reporter. Mit seiner Frau Ronja von Wurmb-Seibel lebte er 2014 für ein Jahr in Kabul, daraus entstand ihr gemeinsamer Kino-Dokumentarfilm "True Warriors" (2017). 2020 erschien ihr zweiter Film "Wir sind jetzt hier". Das Paar lebt auf dem Land in der Nähe von München.

Kontakt: schenck.niklas@gmail.com

Niklas Schenck und Ronja von Wurmb-Seibel waren 2021 mit ihrer Dokumentation "Wir sind jetzt hier" bei Dutzenden Interkulturellen Wochen für Filmgespräche zu Gast. Auch 2022 bieten sie die Gespräche weiter an – wahlweise auch mit einem Fokus auf dem hier beschriebenen Gastfamilienprogramm.

Buchcover
© Kösel-Verlag

Ronja von Wurmb-Seibels Buch über konstruktives Erzählen, "Wie wir die Welt sehen", ist seit Anfang März erhältlich.