"Gebt einander Raum zu Wachstum und Entfaltung...

"Gebt einander Raum zu Wachstum und Entfaltung...
...für Frieden und Gerechtigkeit" - Eine Predigt zum diesjährigen Motto der Interkulturellen Woche "Zusammen leben, zusammen wachsen." 
Pfarrer Dirk Voos

"Es wächst zusammen, was zusammen gehört". Dieser Satz von Willy Brandt fasst für viele Menschen bis heute richtig zusammen, was durch den Einheitsprozess in Deutschland 1989/90 geschehen ist. Dabei dachte Willy Brandt gar nicht nur an die Einigung Deutschlands, sondern hoffte mehr auf das Zusammenwachsen Europas. Während dieser Interkulturellen Woche frage ich, gilt dieser Satz sogar für die ganze Welt, dass alle Menschen gemäß dem Motto dieser Interkulturellen Woche "Zusammen leben, zusammen wachsen."? Was bedeutet dieser Satz, wenn in Deutschland und vielen anderen Ländern inzwischen immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen leben? Wenn durch moderne Technik selbst weit entfernte Orte schnell erreichbar sind? Die Welt sozusagen zusammenrückt? Aber auch, wenn so viele Menschen wie noch nie zuvor auf der Flucht und Suche nach einer neuen Heimat sind, wo sie sicher leben können?

Mit meinen Fragen habe ich den Radius des "Zusammenlebens und Zusammenwachsens" immer weiter ausgedehnt und dabei das "Zusammenwachsen" bewusst als zusammengeschrieben aufgefasst. In den Hochzeiten der Globalisierung wurden die Grenzen in der Welt immer mehr aufgehoben, so dass der Glaube an "eine Welt" Gestalt annahm und die Notwendigkeit allgemeiner Verantwortung für das Wohl der Welt von vielen Menschen wahrgenommen wurde. Neben globalem Handel entstanden weltweite Initiativen gegen Armut, für Gesundheit, Klimaschutz und vieles mehr. Viele Geschichten und Aussagen der Bibel unterstützen diese universelle Sicht der Welt und weisen einen Weg gemeinsamer Verantwortung füreinander. Angefangen von der Schöpfungsgeschichte bis hin zu Pfingsten, wenn dort die sprachlichen Verständnisgrenzen zwischen den Menschen durch Gottes Heiligen Geist aufgehoben werden. Oder wenn, wie im Psalm 107, die erlösende Vision entwickelt wird, dass schließlich im Reich Gottes die Menschen von überall, von Osten und Westen sowie von Norden und Süden zusammenkommen und zusammen leben. Dahin soll nach Gottes Willen sich alles entwickeln – zusammenwachsen.

Doch so weit ist es noch nicht. Vielmehr schlägt aktuell die öffentliche Meinung wie so oft auch schon früher wieder um. Nationalismus mit dem Wunsch zur Eingrenzung der eigenen Heimat wird wieder stärker. Auch das kennt die biblische Überlieferung. Schon die Apostelgeschichte berichtet, wie die Menschen an Pfingsten skeptisch reagierten, weil alle auf einmal die Apostel in ihrer eigenen Sprache gehört und verstanden haben. Aber auch die komplementäre biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel erinnert daran, wie die Verbundenheit unter Menschen verloren geht. Die Geschichte erzählt von einer Zeit, in der alle Menschen noch eine Sprache sprachen und zusammengehörten. Zusammen suchten sie nach einem geeigneten Ort, zusammen zu leben und zu wachsen.

Ich stelle mir vor, die Menschen wollten wachsen im Sinne von sich weiter entwickeln und entfalten. Sie wollten Macht über die Welt, selbst bestimmen, was wird, wie sie leben. Doch dafür brauchen Menschen Raum. Ohne Platz zum Ausprobieren und sich entfalten gibt es solchen Gestaltungsraum nicht. Die Menschen brachen deshalb auf, den richtigen Platz für sich zu finden, und entdeckten ihn in einer Ebene im Lande Schinar. In einer Ebene hat man freien Blick. Für die eigene Entfaltung scheint es keine Grenze zu geben. Weit und breit viel Platz zum Wachsen. Doch weil die Menschen am Horizont keine Grenze erkannten, fanden sie damals keine Ruhe. Sie wurden unzufrieden und unsicher. Irgendetwas stimmte nicht, so dass sie immer weiter schauen wollten. Was ist am Rand des Horizonts? Verpassen sie dort etwas? Droht irgendeine Gefahr? Wegen dieser Unsicherheit und Gier begannen sie, einen hohen Turm zu bauen. So hoch wie es ging – bis zum Himmel. Dann könnte ihnen nichts passieren. Doch damit übernahmen sie sich.

Gemäß der biblischen Erzählung zerstreute Gott sie wegen dieser Hybris, damit sie nicht zu mächtig wurden. Ich verstehe dies aber auch noch anders. Gott begrenzte den Machtbereich der Menschen und zeigte: Halt. Das ist zu viel. Mehr als ihr versteht und beherrscht. Ich ahne, dass die Menschen für die Fülle ihrer Erfahrungen keine gemeinsame Sprache mehr fanden. Es gab zu viele Möglichkeiten, zu unterschiedliche Wünsche und Ziele. Deshalb verloren sie gemeinsame Worte für das, was sie wollten. Die Kommunikation zwischen ihnen funktionierte nicht mehr. So konnten sie sich nicht mehr auf gemeinsame Ziele einigen und brachen ihr Bauvorhaben ab. Sie trennten und zerstreuten sich. Es geschah genau das, was sie vermeiden wollten.

Neben der mythologischen Erklärung der Bibel vom Eingreifen Gottes verbirgt sich in dieser Geschichte die elementare psychologische Erfahrung, was geschieht, wenn Menschen Grenzen fehlen. Ohne erkennbare Grenzen verlieren Menschen sich in der Endlosigkeit. Wo sollen sie Halt machen, um Halt zu haben? Wie sollen sie den Raum finden, sich in Ruhe zu entwickeln und zu wachsen? Menschen brauchen Grenzen zur Orientierung, sodass sie anhalten können und sich aus einem bekannten Erfahrungsraum ausdehnen und entwickeln – wachsen können. Um dann auch vorsichtig Grenzen zu überschreiten, um sich weiter zu entfalten und zu entwickeln. Dafür ist Religion wichtig, um zu erfahren und zu erkennen, wie Gott Grenzen setzt. Um anzuerkennen, was Menschen nicht selbst können. Dass Menschen mit dem auskommen müssen, was ihnen an Fähigkeiten und Möglichkeiten gegeben ist. Und trotz der Fülle der Möglichkeiten die eigenen erkennen zu können. Was hat Gott mir als Fähigkeiten und Möglichkeiten gegeben? Welchen Handlungsspielraum habe ich? 

Wir Menschen tragen aber auch Mitverantwortung für den Zustand unseres Umfelds. Können wir Menschen zwar nur in den gesetzten Grenzen etwas bestimmen, weil vieles vorgegeben ist, so haben wir doch einen großen Entscheidungsspielraum, unsere Möglichkeiten zu erweitern – zu wachsen. Aber die Grenzen des Raums, den wir bewohnen und entwickeln, müssen wir zusammen mit unseren Mitmenschen bestimmen. Und mit ihnen zusammen sind wir dafür verantwortlich, friedliche menschengerechte Lösungen zu finden. Nicht nur für uns, sondern miteinander. Gott möchte, dass wir gerecht und friedlich zusammen leben. 

Die biblische Vision, dass Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, gibt dieses lohnenswerte Ziel für verantwortungsvolles Wachsen vor. Einen Zielort, an dem Frieden herrscht, an dem niemand klagen muss, sondern alle fröhlich zusammen leben können. Wir Menschen können diese Vision zwar nicht allein aus eigenen Kräften verwirklichen. Wir können jedoch versuchen, uns von dieser Vision Gottes inspirieren zu lassen, Schritte zu einem guten und achtsamen Zusammenleben zu gehen. Wenn wir uns wie die Jünger an Pfingsten von Gottes Geist und Wort anleiten lassen, dann beharren wir nicht auf eigenen Standpunkten. Dann können wir andere kulturelle und religiöse Ausdrucksformen ohne Scheu akzeptieren, unseren Lebensraum teilen und zusammen wachsen. Wenn wir anderen Platz zum Entwickeln lassen, dann kann jede und jeder in der Gemeinschaft reifen, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten entwickeln und zum Zusammenleben beitragen – für Frieden und Gerechtigkeit. Lasst uns mit Gottes Hilfe und in seinem Geist zusammen leben und wachsen. Amen.

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Dirk Voos
Foto: Markus Zielke

Dirk Voos arbeitet als Pfarrer in der Evangelischen Flüchtlings- und Migrationsarbeit Bonn. Dort sind Seelsorge sowie interkulturelle und multireligiöse Begegnungen seine Arbeitsschwerpunkte.

 

 

 

 

 

 

Dieser Artikel ist im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2019 erschienen. Das Heft können Sie hier bestellen.