Wie träumt man eigentlich, wenn man blind ist?
Wie fühlt sich die Flucht in ein fremdes Land an?
Und warum verdrehen schwarze Deutsche oft die Augen, wenn man die Frage stellt »Und wo kommst du ursprünglich her?«
Das sind Fragen, die sich der eine oder die andere vielleicht auch schon einmal gestellt hat. Aber wo bekommt man Antworten darauf?
Die Idee »die lebende Bibliothek«
Zum Beispiel in der »lebenden Bibliothek« des Caritasverbands Bonn. Diese ist ein ganz besonderes Veranstaltungsformat, das ebenso simpel wie effektiv ist. Die Lebende Bibliothek funktioniert nämlich wie eine klassische Bibliothek: Menschen leihen sich für die Dauer von 30 Minuten ein Buch aus und lesen es – nur, dass die Bücher in diesem Fall echte Menschen mit echten Geschichten sind, und dass lesen hier ein Gespräch unter vier Augen bedeutet.
Da erzählt ein nigerianischer Politologe als Buch mit dem Titel »Der lange Weg zur Heimat – Eine Geschichte vom Weggehen und Ankommen« von seinem weiten Weg aus seiner alten in eine neue Heimat, die sich aber nie völlig selbstverständlich und heimatlich anfühlen wird. Da lässt ein buddhistischer Mönch unter dem Titel »In der Ruhe liegt die Kraft – oder was macht ein buddhistischer Mönch in Bonn?« die LeserInnen daran teilhaben, wie seine Lebensanschauung durch seine Religion geprägt ist und wie sich sein Alltag gestaltet. Andere Bücher haben Titel wie »Von hier an blind und trotzdem leben wie alle«, »Deutsche Muslima, hier daheim, jut is!« oder »Armut stinkt nicht und ist auch nicht ansteckend«.
Buch sein kann jeder, der offen über sein Leben oder bestimmte Aspekte daraus reden möchte. Daher haben die Bücher unterschiedliche Herkünfte, Religionen und Lebensweisen; sie sind Menschen mit unterschiedlichen Berufen, Hobbies und Weltanschauungen. Oft sehen sie sich im Alltag mit Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert.
Die »Lebende Bibliothek« ist ein flexibles und modernes Veranstaltungsmodul, das ursprünglich aus Dänemark kommt und im öffentlichen Raum, beispielsweise auf Straßenfesten oder Marktplätzen ebenso stattfinden kann wie als Veranstaltung in geschlossenen Gruppen (z.B. Seminaren oder Fachtagungen). Besonders wirksam und nachhaltig erweist sich die »Lebende Bibliothek« als Anti-Diskriminierungs-Workshop in Einrichtungen unterschiedlichster Couleur oder im Schulkontext. Denn sie vermittelt Menschen jeglichen Alters und jeglichen Hintergrunds Bildung und Begegnung auf einer sehr persönlichen Ebene – ohne moralischen Zeigefinger.
Menschen kommen miteinander in Kontakt, die sich sonst nie begegnen würden und die im Dialog Erfahrungen aus erster Hand vermitteln. Mit dem einfachen Credo miteinander statt übereinander zu reden wird Schubladendenken ganz unmittelbar thematisiert. In der direkten Kommunikation haben die Beteiligten die Chance, vorgefertigte Meinungen, Vorurteile und Klischees zu hinterfragen oder zu korrigieren. Denn nur persönliche Begegnungen relativieren die stereotypen Bilder in unseren Köpfen.
Der Rahmen
Wichtig ist, dass die Veranstaltung einen geschützten Rahmen hat, der eine möglichst ungestörte Gesprächsatmosphäre zwischen der entleihenden Person und dem lebenden Buch ermöglicht. Es gelten Regeln, die einen gegenseitigen respektvollen Umgang gewährleisten. Das »Buch« entscheidet, was und wie viel Persönliches es erzählen möchte und was nicht. Sowohl das »Buch« als auch die Leserin oder der Leser können das Gespräch jederzeit ohne Begründung abbrechen. Die Lesenden verpflichten sich, das »Buch« unbeschädigt zurückzugeben, d. h. die Würde des »Buches« darf in keiner Form verletzt werden. Gegenseitiger Respekt ist ganz wichtig. Es geht in den Gesprächen ums Verstehen, nicht ums Überzeugen.
Der Diözesan-Caritasverband arbeitet seit 2014 innerhalb seiner Kampagne »vielfalt. viel wert.« mit der Methode der »lebenden Bibliothek«. Er hat in 60 Veranstaltungen mehr als 388 lebende Bücher zu Gesprächen mit interessierten Leser*innen zusammengebracht.