Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2023

"Neue Räume" lautet das Motto der Interkulturellen Woche 2023. © ÖVA / wigwam.im
Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2023
Georg Bätzing, Annette Kurschus und Metropolit Augoustinos von Deutschland

Neue Räume

Seit über einem Jahr zerstört der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine brutal das Leben, die Hoffnungen und die Perspektiven unzähliger Menschen. Es ist schwer erträglich, mitansehen zu müssen, wie jeden Tag Menschen sterben, Familien auseinandergerissen und Existenzen vernichtet werden. Zivilisten werden getötet, unschuldige Menschen gefoltert, Frauen vergewaltigt und Kinder entführt. Dass im Europa des 21. Jahrhunderts ein solcher barbarischer Krieg geführt wird, erschüttert uns zutiefst.

IKW-Motiv Flucht 2023
Das Postkartenmotiv für 2023 zum Thema Flucht.

Dieser Krieg führt uns in dramatischer Weise vor Augen, dass die zivilisatorische Leistung eines friedlichen Zusammenlebens zerbrechlich ist. Weder im Großen, in den Beziehungen zwischen Völkern und Nationen, noch im Kleinen, in der Gestaltung des gesellschaftlichen Alltags in kultureller Vielfalt, ist das friedliche Zusammenleben der Menschen etwas Selbstverständliches. Vielmehr bedarf es sowohl auf der individuellen Ebene als auch in den verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Bereichen immer wieder erneut der Entschlossenheit, für Respekt, Gewaltfreiheit, Wohlwollen und Frieden einzutreten. Wir alle stehen jeden Tag neu vor der Entscheidung, ob wir unsere eigenen Interessen – auch auf Kosten und zu Lasten unserer Mitmenschen – durchsetzen wollen oder ob wir uns um einen fairen Ausgleich der verschiedenen Interessen bemühen. Immer wieder sind wir gefragt, ob wir Mauern um uns herum errichten oder Barrieren abbauen und neue Räume entstehen lassen.

"Niemand hat das Recht, einem anderen Menschen den Raum zu einem Leben in Würde streitig zu machen."

"Neue Räume" – unter diesem Leitwort werben wir mit der Interkulturellen Woche in diesem Jahr dafür, nicht nachzulassen in der Entschiedenheit für ein respektvolles und gleichberechtigtes Miteinander. Dazu gehört zunächst einmal, dass wir einander den Raum zugestehen, den jede und jeder Einzelne zum Leben benötigt. Nach biblischer Überlieferung ist es Gott selbst, der den Raum zum Leben geschaffen und den Menschen überlassen hat, wenn es heißt: "Gott, der Herr, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte." (1. Mose 2,15) Niemand hat daher das Recht, einem anderen Menschen den Raum zu einem Leben in Würde streitig zu machen.

IKW-Motiv Rassismus 2023
Auch das Thema Rassismus wird behandelt.

Auf der Suche nach einem solchen Raum zum Leben sind derzeit unzählige Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht. Als Aufnahmeland von über einer Million Geflüchteten aus der Ukraine übernimmt Deutschland zusammen mit anderen europäischen Ländern Verantwortung. Wir sind dankbar für das hohe Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Zivilgesellschaft. Und dankbar sind wir auch für das große Engagement der Städte und Gemeinden. Sie leisten Großartiges bei der schnellen Aufnahme von Geflüchteten.

Nach wie vor suchen aber auch Menschen aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan, vom afrikanischen Kontinent und aus anderen Teilen der Welt Schutz in unserem Land. Sie alle sind vor Not, Unrecht, Terror, Gewalt und Zerstörung in ihren Herkunftsländern geflohen und auf unsere Hilfe angewiesen. Deshalb darf es auch keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse geben. Es ist ein Kraftakt, so viele Menschen gleichzeitig aufzunehmen, ihnen Wohnraum zur Verfügung zu stellen und medizinische Versorgung und Bildung zu ermöglichen. Nicht wenige Kommunen signalisieren, dass sie an ihre Grenzen kommen oder ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Aber es kann niemals eine Option sein, wegzuschauen vor dem Leid der Menschen, die vor der Tür stehen. Niemals kann es die "Lösung" sein, die europäischen Außengrenzen für Schutzsuchende zu verschließen und dabei in Kauf zu nehmen, dass Menschenrechte nicht beachtet werden. Deshalb appellieren wir an die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, das Recht auf Asyl zu verteidigen, faire Verfahren zu garantieren und Menschen in Not zu ihrem Recht zu verhelfen. Das schließt eine würdige und sichere Unterbringung ein, insbesondere von denen, die am verletzlichsten sind. Alle Menschen in unserem Land bitten wir, nicht müde zu werden in der Haltung der Solidarität und aktiver Hilfsbereitschaft.

"Es braucht Räume der Begegnung – in Betrieben, Schulen, Vereinen und Gemeinden."

IKW-Motiv Gestalten 2023
Die IKW ruft dazu auf, neue Räume zu gestalten, zu bauen und zu öffnen, aber auch, bestehende Räume zu zeigen und zu verteidigen.

Mit der Aufnahme von Geflüchteten in unserem Land ist auch die Aufgabe verbunden, ihnen das Ankommen und das Hineinwachsen in die Gesellschaft zu ermöglichen. Es braucht Räume der Begegnung – in Betrieben, Schulen, Vereinen und Gemeinden. Als christliche Kirchen möchten wir mit der Interkulturellen Woche dazu beitragen, dass solche Begegnungsräume entstehen und gestaltet werden.

Es ist ein Kennzeichen des Lebens und Wirkens Jesu Christi, dass er Räume der Begegnung geöffnet hat, wenn er sich z.B. mit Menschen, die Schuld auf sich geladen hatten oder als nicht gesellschaftsfähig galten, an einen Tisch gesetzt hat. Oder denken wir an die Szene, in der Jesus Kinder in die Mitte stellt und sie zu Vorbildern des Vertrauens erklärt. (Markus 10,13-16). Jesus weitet den Raum und schafft gesegnete Gemeinschaft, an vielen Orten. So entsteht dann auch die junge Kirche über Grenzen von Sprache und Herkunft hinweg. Am Pfingstfest (Apostelgeschichte 2,1-12) werden Diversität und kulturelle Vielfalt nicht etwa nivelliert. Das Wunder besteht vielmehr darin, dass alle in ihrer jeweiligen Landessprache sprechen – und einander doch verstehen.

"Indem wir Räume der Begegnung schaffen und gestalten, zeigen wir, dass das friedliche Zusammenleben der Vielen nicht nur möglich ist, sondern auch eine Bereicherung darstellt."

Es ist eine der globalen Herausforderungen unserer Zeit, aber auch eine Aufgabe, die sich Deutschland als modernem Einwanderungsland, in dem mehr als ein Viertel der Bevölkerung eine migrantische Geschichte hat, in besonderer Weise stellt, Gemeinschaft in Vielfalt zu gestalten und Interkulturalität zu leben. Die biblische Botschaft ermutigt dazu und hilft uns, Ängste zu überwinden. Zugleich mahnt sie, denjenigen entschieden entgegenzutreten, die auf Vielfalt mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus reagieren. Indem wir Räume der Begegnung schaffen und gestalten, zeigen wir, dass das friedliche Zusammenleben der Vielen nicht nur möglich ist, sondern auch eine Bereicherung darstellt.

"Es ist richtig und an der Zeit, dass Menschen, die zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten in diesem Land leben und zu seinem Wohlstand und seiner Fortentwicklung beitragen, mitbestimmen dürfen."

Aktionsplakat IKW 2023
Das Aktionsplakat kann mithilfe von mitgelieferten Satzbausteinen eine individuelle Aussage bekommen.

Um ein gelingendes und friedliches Zusammenleben dauerhaft zu verwirklichen, bedarf es gesicherter Räume der Partizipation und Teilhabe. Deshalb erfüllen uns die aktuellen Bemühungen um ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht mit Hoffnung. Es ist nicht nur ein Zeichen der Anerkennung, die deutsche Staatsangehörigkeit allen, die hier auf Dauer leben, anzubieten; es ist auch eine unumgängliche Maßnahme gegen ein Demokratiedefizit, das entsteht, wenn Menschen, die hier leben und arbeiten, auf lange Zeit von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Daher ist es richtig und an der Zeit, dass Menschen, die zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten in diesem Land leben und zu seinem Wohlstand und seiner Fortentwicklung beitragen, mitbestimmen dürfen.

Viele Entwicklungen und Probleme unserer Tage sind bedrückend und belastend. Gerade deshalb will die Interkulturelle Woche Räume für Information, Diskussion und Austausch, Räume für Begegnung und Kultur und nicht zuletzt Räume für gemeinsames Essen und Feiern schaffen. Im Rahmen der Interkulturellen Woche wird es auch in diesem Jahr wieder viele Tausend Einzelveranstaltungen und Initiativen geben. Mittlerweile nutzen mehr als 600 Städte, Gemeinden und Landkreise im ganzen Land die Interkulturelle Woche, um die Zivilgesellschaft zu stärken und neue Räume zu eröffnen. Wir danken allen, die sich vor Ort mit ihrer Kraft und mit großer Kreativität engagieren, von Herzen. Lassen Sie uns miteinander die vor unserer Gesellschaft liegenden Aufgaben annehmen und anpacken, um so unser Zusammenleben in Freiheit und Demokratie unter sich immer wieder verändernden Rahmenbedingungen zu festigen und zu gestalten.