Vielfalt ist Alltag in unserem Land: Sie wird in den Familien gelebt, in den Nachbarschaften, in den Schulen, am Arbeitsplatz, in den Kirchen und Glaubensgemeinschaften, in den vielen Organisationen, die das gesellschaftliche Leben gestalten. Überall begegnen sich Menschen verschiedener Herkunft, arbeiten an gemeinsamen Zielen und Zukunftsvorstellungen. Die einen sind seit Generationen hier zuhause, die anderen sind aus allen Himmelsrichtungen zugewandert: Das ist Deutschland – ein Land mit einer langen Geschichte und gewachsener kultureller Prägung. Und zugleich ein Land, das offen ist für Menschen, die eigene Traditionen mitbringen.
Vielfalt macht neugierig, sie ist bereichernd und zeigt immer wieder neue Perspektiven auf. Doch ebenso gibt es die Erfahrung, dass Vielfalt Angst vor dem Fremden oder vor Veränderungen auslöst. Manchmal ist sie konfliktträchtig und anstrengend. Vielfalt ist eine Herausforderung für das Zusammenleben und den Zusammenhalt in einem Gemeinwesen.
Uns ist bewusst: Vielfalt muss auch ausgehalten und immer wieder eingeübt werden. Die grundlegenden Rechte und Pflichten aller in Deutschland lebenden Menschen sind in unserer Verfassung und in den Gesetzen klar formuliert. Das heißt aber nicht, dass die konkrete Ausgestaltung des Zusammenlebens einfach wäre. Jeder und jede einzelne in unserem Land trägt Verantwortung dafür, unsere offene Gesellschaft zu gestalten und Teilhabe zu ermöglichen.
Als Kirchen wissen wir uns dem Wohl unseres Gemeinwesens in besonderer Weise verpflichtet. Im 85. Psalm heißt es:
„Könnte ich doch hören,
was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Land Ehre wohne,
dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und
Friede sich küssen.“
Was ist richtig und angemessen, um den Zusammenhalt zu stärken? Was ist im Sinne des Psalms „töricht“, also störend und hinderlich für unser Zusammenleben? Was ist notwendig und was darf von uns als Kirchen erwartet werden, damit „in unserm Land Ehre wohne“ und alle Menschen gern hier leben? Was bedeutet es, dass Gerechtigkeit und Friede, Güte und Treue voneinander nicht zu trennen sind? In einer Einwanderungsgesellschaft wie der unseren verbindet sich damit auch die Frage: Wie wird man den Anliegen der unterschiedlichen Menschen gerecht – derer, die schon lange hier leben, und derer, die neu hinzugekommen sind?
Wir leben in Zeiten, in denen die Fundamente unseres Zusammenlebens in Frage gestellt werden. Zivilisatorische Errungenschaften, wie das friedliche Miteinander in einem geeinten demokratischen Europa, sogar die universelle Geltung der Menschenrechte, scheinen an Gewicht zu verlieren. Rechtspopulistische, ja rassistische Strömungen gewinnen an Zulauf. Ablehnung von Fremden, anderen Meinungen, von Angehörigen jüdischer und islamischer Gemeinden oder von anderen Lebensentwürfen äußert sich viel zu oft in gewalttätigen, menschenfeindlichen Übergriffen.
Auch unter Christinnen und Christen gibt es Tendenzen der Ausgrenzung und Abschottung. Einheit wird manchmal mit Einheitlichkeit verwechselt. Dabei gehört Vielfalt konstitutiv zum Wesen der Kirche. Der Glaube verbindet Menschen über Ländergrenzen, Sprachen und Kulturen hinweg. In der Nachfolge Jesu verlieren Unterschiede ihre trennende Macht. So schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Wenn wir als Christen von „Einheit“ sprechen, meinen wir „Einheit in Vielfalt“.
Als Kirchen stehen wir in besonderer Weise an der Seite der Schutzbedürftigen – bei denen, die sich nicht selbst helfen können. Dabei macht es keinen Unterschied, woher jemand kommt oder welche Geschichte er oder sie mitbringt.
Die Interkulturelle Woche dient der Begegnung zwischen „alten“ und „neuen“ Nachbarn: Im Austausch über den Alltag, im Gespräch über Gemeinsames und Unterscheidendes kann Vertrauen wachsen. Gleichzeitig bietet die Interkulturelle Woche eine gute Gelegenheit, mit politischen Verantwortungsträgern über drängende Fragen ins Gespräch zu kommen.
Dazu gehört etwa die Situation an den europäischen Außengrenzen. Die Staaten Europas stehen vor der Aufgabe, Fragen der Migration menschengerecht zu gestalten. Wenn wir uns daran gewöhnen, dass tagtäglich schutzsuchende Menschen an den Außengrenzen ihr Leben verlieren, drohen unsere Grundwerte bedeutungslos zu werden. Seenotrettung darf daher nicht kriminalisiert werden. Sie stellt eine völkerrechtliche und humanitäre Verpflichtung dar.
Mit Nachdruck setzen sich die Kirchen dafür ein, dass Menschen, die bei uns Schutz suchen, nicht dauerhaft von ihren engsten Angehörigen getrennt werden. Der Schutz der Familie liegt den Kirchen am Herzen. Zugleich ist er im Grundgesetz verbrieft und durch mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Die Aussetzung des Familiennachzugs für Bürgerkriegsflüchtlinge hat viele Betroffene in Verzweiflung gestürzt. Künftig soll er nur noch in stark eingeschränkter Form möglich sein. Damit verbindet sich eine Frage, die für die Betroffenen existentiell ist: Was passiert mit jenen Familien, die nicht berücksichtigt werden und deshalb über mehrere Jahre voneinander getrennt bleiben? Welche Folgen hat das Trauma der Trennung für sie persönlich? Können sie sich unter solchen Umständen auf ein neues Leben in Deutschland einlassen? Als Kirchen werben wir hier für eine humane und verantwortungsvolle Lösung.
Auch eine weitere Entwicklung wird von vielen, die in der kirchlichen Flüchtlingsarbeit aktiv sind, mit Sorge betrachtet: Neu ankommende Geflüchtete sollen künftig getrennt von der Außenwelt in großen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht werden. Dort soll auch über einen Asylantrag entschieden und die kommunale Verteilung oder Rückführung organisiert werden. Es gibt die Befürchtung, dass zahlreiche Geflüchtete dort über einen langen Zeitraum bleiben müssen – gerade in schwierigen Fällen, die einer gründlichen Prüfung bedürfen. Die Möglichkeit zu einer sinnvollen Betätigung, zum Spracherwerb und zum Austausch mit Einheimischen ist ihnen verwehrt. Vor allem für diejenigen, die schließlich ein Bleiberecht bekommen, ist dies eine verlorene Zeit. Integration wird von vornherein erschwert.
Die politisch Verantwortlichen und wir alle sind gefragt, unseren Beitrag zu einem guten Miteinander zu leisten. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern, brauchen wir Orte, an denen Menschen in ihrer Verschiedenheit frei von Angst und Abwertung miteinander reden können – nicht anonym, sondern von Angesicht zu Angesicht.
Vielfalt als Herausforderung, Vielfalt als Bereicherung, vor allem aber: Vielfalt als Alltag. Die Interkulturelle Woche bietet immer wieder die Möglichkeit, genau dies neu zu entdecken. Mit ihren 5.000 Veranstaltungen ist sie an mehr als 500 Orten in ganz Deutschland präsent. Sie schafft Orte und Gelegenheiten zum Gespräch. Auch dieses Jahr zeigt sich wieder: Überall in unserem Land gibt es ein vielfältiges Engagement für das friedliche und gute Zusammenleben. Dafür sind wir dankbar.