»Herzlich willkommen – wer immer Du bist.« Dies ist das Motto der Interkulturellen Woche 2012. Wer nach Deutschland einreist – sei es auf der Flucht vor existentiell bedrohlicher politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung, sei es als Arbeitsmigrantin oder Arbeitsmigrant –, soll erfahren, dass eine andere Kultur oder Religion als Ausdruck von Identität und Persönlichkeit akzeptiert wird.
Vor fast 60 Jahren begann die Anwerbung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland. Heute sind die Zahlen von Neuzuwanderern im Vergleich zu dieser Zeit gering. Deutschland ist in den letzten Jahren eher zum Auswanderungsland geworden. In manchen der letzten Jahre wanderten mehr Menschen aus als ein. Geht also das Motto der diesjährigen Interkulturellen Woche an der Realität vorbei?
»Herzlich willkommen – wer immer Du bist.« Diese direkte und vertraute Ansprache will zum Nachdenken anregen. Sie ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Wie leben wir zusammen? Auf welchen gemeinsamen Wertvorstellungen ruht unser Zusammenleben? Wie treten wir dafür ein? Diese und andere Fragen müssen wir stellen und beantworten. Nur so kann es gelingen, die für eine vielfältige Gesellschaft notwendige Gemeinsamkeit und Offenheit weiterzuentwickeln. Basis und Ausgangspunkt aller Diskussionen sind die Würde jedes und jeder Einzelnen und die daraus abgeleiteten Menschenrechte.
Allzu oft leben Menschen nebeneinander her und nicht miteinander. Nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund und Alteingesessene, sondern auch andere Gruppen in der Gesellschaft haben kaum Berührungspunkte. Wir alle sind aufgerufen, immer wieder mit Neugier und Offenheit auf andere Menschen zuzugehen und im Gegenüber zuallererst das Geschöpf Gottes zu erkennen.
Es gilt, auf einander zuzugehen – mit Respekt und Interesse für andere, mit Offenheit gegenüber Fremden und Fremdem. So wird es auf Dauer möglich, Gemeinsamkeiten zu entwickeln: zwischen denen, die schon lange hier leben, und denen, die neu hinzukommen, zwischen denen, die in der Mitte der Gesellschaft stehen, und denen, die an den Rand gedrängt werden und kaum Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe finden. Gelegenheiten dazu gibt es viele: im Kindergarten, in der Schule, beim Eintritt ins Berufsleben, beim Umzug in eine andere Stadt oder beim Wechsel der Arbeitsstätte.
Im Galaterbrief des Neuen Testaments lesen wir von einer Gemeinde, in der Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder sozialen Stellung in umfassender Gemeinschaft leben. Der Apostel Paulus schreibt: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). Angesichts der alles verändernden Wirklichkeit Gottes sind wir Christinnen und Christen in besonderer Weise aufgerufen, in unseren Gemeinden Beispiel für diese Gemeinschaft zu geben, auch wenn dies im Alltag zuweilen schwerfällt. Darüber hinaus haben wir den biblisch begründeten Auftrag, die Gesellschaft mitzugestalten und dazu beizutragen, dass niemand aufgrund seiner oder ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft auf der Strecke bleibt.
»Herzlich willkommen – wer immer Du bist.« Das ist eine starke Aussage auch gegenüber aktuellen rassistischen und rechtsextremistischen Gedanken. Wer Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Religion ausgrenzt, wer sie diskriminiert oder gar physisch attackiert, der muss nicht nur mit den Reaktionen der staatlichen Gewalt, sondern auch mit dem Widerspruch der Kirchen rechnen. Es reicht jedoch nicht aus, Gewalttaten zu verurteilen. Wir rufen dazu auf, jeder Äußerung von Menschenfeindlichkeit mit Zivilcourage entgegenzutreten. Fremdenhass, Rassismus, Antisemitismus und jede Form des Rechtsextremismus sind mit dem christlichen Glauben unvereinbar.
Die Interkulturelle Woche soll Gelegenheiten bieten, auch die alltäglichen Diskriminierungserfahrungen anzugehen und Migrantinnen und Migranten von ihren Erfahrungen berichten zu lassen. So kann eine Sensibilität wachsen, die das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft erleichtert. Welche Alltagserfahrungen machen Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe? Welche Formen von offenem und verstecktem Rassismus treffen Menschen anderer kultureller Herkunft? Wie können konkrete Schritte aussehen, damit wir uns als eine offene, freie und demokratische Gesellschaft weiterentwickeln? Wir rufen dazu auf, diese Fragen in diesem Jahr besonders zu thematisieren.
»Herzlich willkommen – wer immer Du bist.« In der Debatte um Integration und Einwanderung vernehmen wir allzu oft einen anderen Leitspruch: »Herzlich willkommen – wer immer uns nützt!« Dies wäre eine Engführung, die mit den Grundwerten unserer Gesellschaft und den grundlegenden Einsichten unseres Glaubens nicht in Einklang zu bringen ist. Seit Jahren engagieren sich die Kirchen für eine großzügige Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete, bei der auch Alte, Schwache, Kranke und Alleinerziehende eine Chance haben. Wir mahnen erneut an, dieses Thema auf die politische Tagesordnung zu setzen und für eine umfassende und vor allem humanitäre Bleiberechtsregelung einzutreten.
Immer deutlicher zeigt sich, dass nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in einer globalisierten Welt vor der Herausforderung steht, Migration und die Aufnahme von Flüchtlingen zu gestalten. Den Kirchen ist es ein besonderes Anliegen, dass die Menschenrechte von Flüchtlingen gerade an den Außengrenzen Europas geachtet werden. Die großen Staaten im Zentrum Europas dürfen ihre Verantwortung für den Flüchtlingsschutz nicht auf die Randstaaten oder gar auf die Nachbarländer außerhalb der Europäischen Union abwälzen. Es ist unter menschlichen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten schwer zu ertragen, dass Tausende auf dem Weg nach Europa an den Grenzen gedemütigt, inhaftiert, widerrechtlich zurückgewiesen werden oder gar ihr Leben verlieren.
»Herzlich willkommen – wer immer Du bist.« Die Interkulturelle Woche mit ihren zahlreichen Veranstaltungen ist jedes Jahr ein lebendiges Zeichen dafür, dass wir uns auf einem guten Weg zu einer echten Willkommenskultur befinden. Wir danken allen, die sich vor Ort für die Anliegen der Interkulturellen Woche einsetzen und wünschen ihnen gute Erfahrungen und Gottes Segen für ihr Engagement.