Es war ein besonderer bundesweiter Auftakt der Interkulturellen Woche unter besonderen Bedingungen: Statt 900 Gästen nur 130 beim Gottesdienst in der Münchner Frauenkirche, anschließend beim Empfang nur 50 Menschen im Publikum. Alles auf Abstand, alles mit Hygienekonzept – trotzdem war es stimmungsvoll, hochinteressant, und irgendwie genau richtig.
Der ökumenische Gottesdienst wurde unter anderem gestaltet von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sowie dem Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, und dem Vorsitzenden der Orthodoxen Bischofskonferenz, Metropolit Augoustinos von Deutschland (hier die Aufzeichnung anschauen).
In seiner Einführung in den Gottesdienst erinnerte Kardinal Marx an den 40. Jahrestag des Attentats auf das Münchner Oktoberfest vor 40 Jahren, am 26. September 1980: "Dreizehn Menschen starben, viele Verletzte leiden bis heute, der Schock über diesen Terroranschlag ist in dieser Stadt immer noch groß. Heute wissen wir um den rechtsradikalen Hintergrund, den Fremdenhass, den menschenverachtenden Nationalismus, die dieses Verbrechen angetrieben haben. Dieser Gottesdienst und diese Interkulturelle Woche sollen auch ein Zeichen sein gegen Hass, Antisemitismus, die Verachtung anderer, nationalistische Hetze. Wir Christen wissen, wo wir stehen müssen: bei denen, die aufstehen gegen jeden Hass und gegen Rassismus und menschenverachtendes Reden und Handeln."
In seiner Predigt knüpfte Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm an das Leitwort der Interkulturellen Woche an. Er verstehe das Motto "Zusammen leben, zusammen wachsen" als einen Prozess des Lernens und Teilens. "Wir alle sind Teil der Menschheitsfamilie, die mit Vielfalt und Verschiedenheit beschenkt ist, aber gemeinsam unterwegs ist", so Bedford-Strohm. "Aber: Wir sind noch längst nicht am Ziel. Misstrauen, Hass und Gewalt bedrohen das, was unsere Vielfalt auszeichnet. Wir erleben Rassismus und Ausgrenzung von Menschen auf eine Weise, die wir uns nicht haben vorstellen können, in unserem Land, in Europa und an seinen Grenzen. Als Christinnen und Christen stellen wir uns an die Seite derer, die in Gefahr sind." Die Veranstaltungen der Interkulturellen Woche und der Einsatz und die Kreativität von so vielen Menschen im ganzen Land seien "ein Leuchtfeuer für das, was wir sein können: eine Gemeinschaft der Vielen, für die jeder gleichermaßen wichtig ist. Ich möchte deshalb dem Motto 'Zusammen leben, zusammen wachsen' ein Drittes hinzufügen: 'Beieinander bleiben.' Das ist heute dringend notwendig. Dazu ruft Gott uns, und dazu gibt er uns auch die Kraft", sagte Bedford-Strohm.
Grußworte der jüdischen und muslimischen Gemeinde
Für die Israelitische Kultusgemeinde sendete deren Präsidentin Charlotte Knobloch Grüße an die Gottesdienstbesucher. Wegen des Feiertags Jom Kippur konnte sie nicht persönlich am Gottesdienst teilnehmen, ihr Grußwort wurde verlesen von Beate Sträter, der stellvertretenden Vorsitzenden des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses zur IKW. Knobloch brachte ihre Sorge zum Ausdruck, dass die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft und unseres friedlichen Zusammenlebens heute so gefährdet seien wie seit Langem nicht mehr. "Eine Gesellschaft, die sich von den Werten entfernt, auf denen sie aufgebaut ist, kann nicht lange Bestand haben. Gemeinsam gegen den Hass anzugehen und den Hetzern mit Bestimmtheit und dem Selbstbewusstsein der Demokraten entgegenzutreten, ist die Aufgabe unserer Zeit", schrieb Knobloch.
Imam Benjamin Idriz, der Vorsitzende des Münchner Forums für Islam, betonte in seinem Grußwort ebenfalls das Gemeinsame und das Miteinander. "Wir haben allen Anlass, das zu demonstrieren, zu stärken und zu leben. Somit kommt die Interkulturelle Woche zur rechten Zeit", so Idriz. In bewegenden Worten erinnerte auch er an das Oktoberfestattentat von 1980. Ein Freund, damals 17 Jahre alt, lief nur kurz vor der Explosion an der Stelle vorbei, an der die Bombe platziert war. Er blieb unverletzt, während andere ihr Leben verloren oder seitdem schwer gezeichnet sind. Die Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ stehe aber allein Gott zu. "An Gott zu glauben heißt auch, ihm das zuzugestehen. Das ist kein Trost, aber eine Lebensaufgabe für Gläubige", so Idriz.
Der "gesprengte Ring" wurde wieder zusammengesetzt
Im Gottesdienst wurde auch das Kunstwerk "Der gesprengte Ring" präsentiert. Das Münchner Künstler-Ehepaar Anna und Andreas Eichlinger hat anlässlich des 40. Jahrestages des Oktoberfestattentates eine Skulptur aus Holz gebaut. Verschieden lange Abschnitte aus alten, patinierten Bauholzbrettern, versehen mit Spuren von längst vergangenen Arbeitsprozessen, bilden einen Kreis von zwei bis drei Metern Durchmesser. Die Geschlossenheit des Kreises ist allerdings aufgerissen, noch dazu an der verletzten Stelle schwarz verbrannt. Wie von einer Explosion zerfetzt, liegen die herausgerissenen Teile weit verstreut herum. Während der Fürbitten wurden die fehlenden Teile wieder an ihre ursprüngliche Stelle eingefügt, der Kreis somit wieder geschlossen. Zukünftig soll das Kunstwerk für Aktionen und Gottesdienste zum Gedenken an Opfer von rechtem Terror bundesweit ausgeliehen werden können.
Spannende Gesprächsrunde thematisierte die Perspektive der Opfer von rechten Terroranschlägen
Im Anschluss veranstalteten der Ökumenische Vorbereitungsausschuss (ÖVA) zur Interkulturellen Woche und das "Bayerische Bündnis für Toleranz – Demokratie und Menschenwürde schützen" im Kolping-Haus einen Empfang mit anschließender Gesprächsrunde (hier anschauen). Moderiert von Martin Becher, dem Leiter der Projektstelle gegen Rechtsextremismus beim Bündnis für Toleranz, wurde über das Thema "Bedrohte Demokratie?! – 40 Jahre nach dem Oktoberfestattentat" diskutiert.
Dabei stand vor allem die Perspektive der Opfer von rechten Terroanschlägen im Mittelpunkt und welche Rolle Ermittlungsbehörden, Justiz und Zivilgesellschaft in der Aufarbeitung zukommt. "Die Opfer sind die einzigen, die das Recht haben, zu vergessen – wenn sie es denn können", sagte der Journalist Ulrich Chaussy, der kurzfristig für den erkrankten Mehmet Daimagüler an der Runde teilnahm. Chaussy hat umfassend über das Oktoberfestattentat von 1980 recherchiert und das offizielle Ermittlungsergebnis, die Tat sei von einem Einzeltäter begangen worden, in Zweifel gezogen. Der auf seinem Buch basierende Spielfilm "Der blinde Fleck" führte 2014 zur Wiederaufnahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt.
"Systematische Probleme bei Polizei und Justiz"
Kristofer Herbers von der DGB-Jugend stellte systematische Probleme in Polizei und Justiz bei den Ermittlungen zu rechtsterroristischen Anschlägen fest, vom Oktoberfestattentat bis hin zur Terrorserie, die der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) verübte. "Wenn die Öffentlichkeit hinterher mit dem Finger darauf zeigt, ist es zu spät", so Herbst. Die DGB-Jugend setzt sich seit Jahrzehnten für das Gedenken an die Opfer des Oktoberfestattentats ein.
"Wie kann es sein, dass Rechtsterroristen mordend durch Deutschland ziehen, und niemand bekommt es mit?", fragte die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız. Sie vertrat Angehörige von NSU-Opfern und bekam ab 2018 Drohbotschaften, die mit "NSU 2.0" unterzeichnet waren, obwohl ihre Adresse nicht öffentlich bekannt ist. Die daraus folgenden Ermittlungen, die noch andauern, deckten mutmaßlich eine rechtsextreme Zelle innerhalb der Frankfurter Polizei auf. Von einem Computer des 1. Frankfurter Reviers waren nicht-dienstlich Melderegistereinträge zu Başay-Yıldız abgefragt worden. Sie kritisierte ein mangelndes Fehlerbewusstsein bei den Ermittlern, die sich bei den NSU-Morden sehr schnell auf organisierte Kriminalität festgelegt hatten.
Die Interkulturelle Woche (IKW) dauert noch bis zum 4. Oktober, in manchen Kommunen auch länger. Mit unterschiedlichsten Veranstaltungen und Aktionen wird die Vielfaltsgesellschaft gefeiert und werden Räume für Begegnungen eröffnet, digital und analog. Die IKW bietet aber genauso den Rahmen, um über die schwierigen Themen einer vielfältigen Gesellschaft zu sprechen – wie an diesem Abend in München.