Quelle: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung
Rund 13 % der Wahlberechtigten in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Welche Themen sind ihnen wichtig, worum sorgen sie sich - und für welche Parteien würden sie bei einer Wahl potenziell stimmen? Das haben Forscher*innen des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) mit einer repräsentativen Befragung untersucht.
Insgesamt weisen Menschen mit Migrationshintergrund (MH) bei ihren Wahlentscheidungen ähnliche Tendenzen auf wie Menschen ohne MH. Deutliche Unterschiede werden erkennbar, wenn man die Angaben nach Herkunftsregionen der Befragten analysiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue repräsentative Kurzstudie des DeZIM-Instituts unter dem Titel „Vernachlässigtes Wähler*innenpotenzial? Über politische Problemwahrnehmungen, Alltagssorgen und Parteipräferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund“. Dafür wurden 2.689 Wahlberechtigte mit und ohne MH zwischen Dezember 2023 und März 2024 befragt. Entsprechend den Anteilen in der Wahlbevölkerung wurde für einige Fragestellungen der Studie nach den drei relevantesten Herkunftsregionen unterschieden: EU (42,3 %), MENA*-/Türkei-Region (25,3 %) und ehemalige Sowjetunion (12,4 %).
"Berichte, dass migrantische Stimmen den Erfolg einzelner Parteien bestimmen könnten, werden durch die Ergebnisse unserer Studie nicht bestätigt."
Dr. Jannes Jacobsen, Co-Autor der Kurzstudie
Laut Statistischem Bundesamt sind rund 13 % der Wahlberechtigten selbst ohne deutsche Staatsbürgerschaft geboren worden oder haben mindestens ein Elternteil, das nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren wurde. Ihr Anteil an der Wahlbevölkerung wird in Zukunft weiter steigen. Zugleich nehmen sie laut Sachverständigenrat für Integration und Migration deutlich seltener an Wahlen teil als Menschen ohne MH. Daraus ergeben sich eine Vielzahl von Fragen, zu denen die nun vorliegende Kurzstudie Antworten und Hinweise liefert.
Zentrale Ergebnisse
1) Wie wählbar ist die AfD?
Die AfD ist die Partei mit dem niedrigsten Wähler*innenpotenzial unter allen Befragten mit und ohne MH: Nur 21,6 % können sich vorstellen, diese Partei zu wählen. Unter Menschen mit MH variieren die Werte je nach Herkunftsregion: Befragte mit Bezügen zu EU-Ländern (17,6 %) und MENA/Türkei (19,7 %) zeigen geringere Neigungen, die AfD zu wählen. Höhere Werte finden sich bei Personen mit Bezügen zur ehemaligen Sowjetunion (29,2 %). Bei allen drei Gruppen mit MH ist die AfD die Partei mit den niedrigsten Werten. Sie wird damit insgesamt als am wenigsten wählbar erachtet. Abweichungen von den bekannten Umfragen zur Sonntagsfrage lassen sich unter anderem auf die hier angewandte Analysetechnik zurückführen, die eine differenziertere Sicht auf Parteineigungen erlaubt (vgl. dazu "Zur Methodik").
2) Welche Partei hat das größte Potenzial, gewählt zu werden?
Die SPD hat das insgesamt größte Wähler*innenpotenzial bei Menschen mit und ohne MH – 74,4 % der Befragten können sich vorstellen, diese Partei zu wählen. Am größten ist die Neigung seitens Wähler*innen mit EU-Bezug (78,6 %), dann folgen Wähler*innen ohne MH (74 %), Wähler*innen mit MENA-/Türkei-Bezug (72,3 %) und schließlich solche mit Herkunft in der ehemaligen Sowjetunion (65 %). Für letztere rangiert die SPD auf Platz 2 der Parteineigungen. Sie wählen am wahrscheinlichsten CDU/CSU (68,7 %). Bei der Gesamtheit der Befragten ist es umgekehrt: Hier belegt die Union den zweiten Platz: 70,4 % können sich vorstellen, für diese Partei zu stimmen.
3) Wo zeigen sich die größten Unterschiede zwischen den befragten Gruppen?
Die größte Differenz zeigt sich beim Wähler*innenpotenzial für die Grünen: 65,1 % der Befragten ohne MH würden sie wählen, aber nur 41,5 % der Menschen mit Herkunft in der ehemaligen Sowjetunion – ein Unterschied von 23,6 Prozentpunkten. Auch beim BSW gibt es einen auffälligen Unterschied in der Wahlneigung: 55,5 % der Menschen mit MENA-/Türkei-Bezug können sich vorstellen, für diese Partei abzustimmen, während das auf nur 34,6 % der Wahlberechtigten ohne MH zutrifft – ein Unterschied von 20,9 Prozentpunkten.
4) Sorge um sozialen Zusammenhalt nicht für alle Gruppen gleich wichtig
Gefragt nach dem drängendsten politischen Problem (aus einer Auswahl von elf Problemfeldern) gab es viele Überschneidungen in der Wahrnehmung von Menschen mit und ohne MH. Themen wie Wirtschaft/Inflation, Migration und sozialer Zusammenhalt/Vertrauen in die Politik sind beiden Gruppen wichtig. Wirtschaft/Inflation wird dabei von einem Drittel aller Befragten als wichtigstes Problem erachtet und ist somit in allen Gruppen am häufigsten als wichtigstes Problem genannt worden. Für Wähler*innen mit EU-Bezug und solche ohne MH folgen danach die Themen Migration (16,6 % bzw. 18,9 %) und sozialer Zusammenhalt/Vertrauen in Politik (16,1 % bzw. 16,6 %).
Für Menschen mit MENA-/Türkei-Bezug kommt Migration als politisches Problem an vierter Stelle (13,2 %), wohingegen sozialer Zusammenhalt/Vertrauen in Politik mit 23 % der Nennungen auf Platz 2 rangiert. Auf Platz 3 steht bei ihnen Rechtsextremismus (14,4 %). Bei den Wählerinnen ohne MH und mit Bezug in die ehemalige Sowjetunion nannten nur 8,4 % bzw. 4,7 % der Befragten dies als wichtigstes politisches Problem (vgl. Tab. 3, Seite 7 der Kurzstudie).
5) Menschen mit Migrationshintergrund sorgen sich deutlich mehr um eigene wirtschaftliche Lage
Befragt zu vier möglichen persönlichen Sorgen (eigene wirtschaftliche Situation, Altersversorgung, Wohnsituation, Angst vor Kriminalität) äußern Menschen mit MH häufiger Bedenken als Menschen ohne MH. Große Unterschiede gab es mit Blick auf die individuelle wirtschaftliche Situation: 63,4 % der Befragten mit MH machen sich hier „einige“ oder „große“ Sorgen, während dies nur 46,8 % der Befragten ohne MH tun.
6) Geringes Vertrauen in Lösungskompetenz der Parteien
Vor allem bei den politischen Problemfeldern Migration (24,7 %) und Wirtschaft/Inflation (31,2 %) schreiben Menschen mit MH deutlich häufiger als Menschen ohne MH (11,4 % und 23,9 %) keiner der im Bundestag vertretenen Parteien Lösungskompetenz zu. Dies deutet auf eine generelle Skepsis gegenüber politischen Akteur*innen hin. Beim Thema Wirtschaft/Inflation sind sich Befragte ohne und mit MH relativ einig, dass die CDU/CSU am kompetentesten ist: 26,2 % bzw. 28 % sind dieser Meinung. Hinsichtlich Migration bewerten Befragte mit MH CDU/CSU (25,9 %) und AfD (24,7 %) als am kompetentesten. Die Befragten ohne MH sprechen sich klar für die CDU aus (41,8 %). Bei der sozialen Ungleichheit sehen Befragte mit Migrationshintergrund die Linke sehr deutlich vorn (47,1 %), bei den Wähler*innen ohne MH ist es die SPD (29,2 %).
"Die Wahlbevölkerung mit Migrationshintergrund wird in Zukunft wachsen. Es muss noch viel getan werden, um diese Gruppen besser am politischen Willensbildungsprozess teilhaben zu lassen."
Dr. Friederike Römer, Co-Autorin der Kurzstudie
Dr. Jannes Jacobsen, Co-Autor der Kurzstudie: "Menschen mit Migrationshintergrund sind keine homogene Gruppe. Ihre Wahlpräferenzen verteilen sich über die gesamte Bandbreite des Parteienspektrums. Berichte, dass migrantische Stimmen den Erfolg einzelner Parteien bestimmen könnten, werden durch die Ergebnisse unserer Studie nicht bestätigt."
Dr. Friederike Römer, Co-Autorin der Kurzstudie: "Die Wahlbevölkerung mit Migrationshintergrund wird in Zukunft wachsen. Es muss noch viel getan werden, um diese Gruppen besser am politischen Willensbildungsprozess teilhaben zu lassen. Das Thema ist mit Erlangen der Staatsbürgerschaft nicht erledigt. So sollten etwa sozialpolitische Themen gestärkt und Menschen mit Migrationshintergrund gezielt angesprochen werden. Mögliche Anknüpfungspunkte sind aus unserer Sicht durch Migration bedingte Brüche in der Erwerbsbiografie, Diskriminierungserfahrungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder nachhaltige, diskriminierungskritische Kriminalitätsprävention."
Zur Methodik
Im Rahmen der Untersuchung wurden zwischen Dezember 2023 und März 2024 insgesamt 2.689 Wahlberechtigte mit und ohne Migrationshintergrund aus dem DeZIM.panel befragt. Gefragt wurde unter anderem, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Befragten eine im Bundestag vertretene Partei wählen würden ("propensity to vote"). Konkret: "Mit welcher Wahrscheinlichkeit würden Sie Partei X wählen?" Die Antwortmöglichkeiten lagen auf einer Skala von 1 ("Ich würde diese Partei mit Sicherheit nicht wählen.") bis 7 ("Ich würde diese Partei mit Sicherheit wählen."). Ab dem Wert 3 wurden die Stimmen als potenzielle Wähler*innenstimmen gewertet, da ab diesem Wert keine klare Abneigung vorliegt. Somit ist es möglich, dass eine befragte Person als mögliche*r Wähler*in für mehrere Parteien erfasst wird. Im Ergebnis zeigt sich – anders als bei der Sonntagsfrage – ein differenzierteres Bild möglichen Wahlverhaltens, das auch Schwankungen bei der Wahlentscheidung berücksichtigt. Ebenfalls abgefragt wurden die Wahrnehmung politischer Probleme, eigener Alltagssorgen und die Lösungskompetenzen der Parteien hinsichtlich politischer Probleme.
* MENA: Middle East and Northern Africa