Quelle: RIAS
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) dokumentierte von Januar bis Juni 2024 insgesamt 1.383 antisemitische Vorfälle. In den ersten sechs Monaten hat die Meldestelle bereits mehr Vorfälle erfasst als jemals zuvor in einem gesamten Jahr seit Beginn der Dokumentation 2015.
Auswirkungen des 7. Oktober: antisemitische Vorfälle dauerhaft gestiegen
Nach dem sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle nach dem Terrorangriff und den Massakern an der israelischen Zivilbevölkerung vom 7. Oktober 2023 setzt sich das hohe Vorfallaufkommen im Jahr 2024 fort. Monatlich ereigneten sich im Durchschnitt 230 antisemitische Vorfälle. Der Anstieg zeichnet sich in allen von RIAS Berlin erfassten Bereichen ab, sowohl online als auch offline. Der 7. Oktober und der Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza wirken auch 2024 als Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen und Handlungen. Eine rückläufige Tendenz ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts nicht abzusehen.
Weiterhin mehr Vorfälle antisemitischer Gewalt
RIAS Berlin wurden zwei Fälle von extremer Gewalt bekannt: Im Februar wurde ein jüdischer Student in Mitte mehrfach von einem Mitstudenten ins Gesicht geschlagen und ins Gesicht getreten, nachdem er zu Boden gestürzt war. Er kam ins Krankenhaus und musste operiert werden. Im Mai wurde ein jüdischer Ukrainer in Mitte zu Boden gestoßen und mit einem E-Roller verletzt. Der Angreifer rief dabei u.a. „´"Free Palestine". Der Betroffene musste mit einem Knochenbruch an der Hand im Krankenhaus behandelt werden. Neben diesen beiden Fällen dokumentierte RIAS Berlin 23 Angriffe, bei denen Personen geschlagen, bespuckt oder an den Haaren gezogen wurden.
Angriffe und Anfeindungen gegen jüdische und israelische Schüler:innen
RIAS Berlin verzeichnete 27 antisemitische Vorfälle an Schulen. Die Art der Vorfälle ist alarmierend: Auch im Schulkontext wurden Kinder unter Bezugnahme auf Israel, den 7. Oktober oder den darauf folgenden Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza angefeindet. Vier Angriffe gegen jüdische und israelische Schüler:innen hat RIAS Berlin dokumentiert, bei denen diese geschlagen, geschubst oder bespuckt wurden, einhergehend mit Beleidigungen und Beschimpfungen. Antisemitische Vorfälle an Schulen ereigneten sich in neun von zwölf Berliner Bezirken.
Antisemitismus für Jüdinnen und Juden in neuem Ausmaß alltagsprägend
Für Jüdinnen und Juden bleibt die Zäsur des 7. Oktober weiterhin präsent. Die ständige Konfrontation mit Antisemitismus in ihrem Berliner Alltag – auf der Straße, im ÖPNV, auf dem Campus, in der Bar, beim Fußball, im Theater, beim Konzert, beim Einkaufen und online – wirkt auf viele zermürbend. Das ohnehin konflikthafte Aushandeln zwischen der eigenen physischen und psychischen Unversehrtheit und der Sichtbarkeit im Alltag hat sich für viele seit dem vergangenen Herbst drastisch verschärft. In der Konsequenz wählen viele Jüdinnen und Juden Strategien, um öffentlich nicht als jüdisch erkennbar zu sein. Jüdische Studierende berichten, dass sie sich aufgrund von antisemitischen Anfeindungen und Versammlungen auf dem Hochschulgelände nicht länger sicher fühlen. RIAS Berlin hat 30 Vorfälle an Berliner Hochschulen dokumentiert.
Gezielte Mobilisierung hält an: Wöchentlich drei bis vier Versammlungen mit antisemitischen Vorkommnissen
Auf 96 Versammlungen hat RIAS Berlin antisemitische Parolen, Transparente oder Äußerungen festgestellt. So wurden u.a. die Schoa bagatellisiert oder das Existenzrecht Israels infrage gestellt. Viele Versammlungen boten antisemitischen Äußerungen eine öffentlichkeitswirksame Plattform, auch wenn diese nicht jede dieser Versammlungen dominierten. Neben der Verbreitung antisemitischer Inhalte kam es zu Terrorverherrlichungen und Feindmarkierungen. Auf einigen Versammlungen wurden Hamas-Parolen skandiert oder die am 7. Oktober begangenen Massaker, Vergewaltigungen und Entführungen als legitimer "Widerstand" verklärt.
Der Bericht kann hier eingesehen werden.
Stimmen zum Bericht
"Der deutliche Anstieg antisemitischer Vorfälle ausgehend von der Zäsur des 7. Oktober geht einher mit sich verschärfenden politischen und gesellschaftlichen Konflikten um Antisemitismus. Es wird in Berlin viel über Antisemitismus geredet und gestritten, doch Jüdinnen und Juden fühlen sich zunehmend isoliert, das ohnehin konflikthafte Aushandeln zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit hat sich drastisch verstärkt. Diejenigen, die Antisemitismus erleben, benötigen glaubhafte Positionierungen gegen Antisemitismus aus Politik und Stadtgesellschaft – und sie brauchen eine Perspektive, die über die für so viele zermürbende Gegenwart hinausweist."
Julia Kopp, Projektleiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin
"Ohne Schutz – sei es durch die Polizei oder durch private Sicherheitsfirmen – ist keine jüdische Veranstaltung möglich! Egal ob Kinder-Puppentheater, Sport, Konzerte, Jugendgruppen und, und, und. Der militante Judenhass in Berlin ist reell geworden. Die Jagd auf Kinder des TuS Makkabi Berlin am 7. November ist nur ein Beispiel und dem Basketballspiel von Makkabi Tel-Aviv bei Alba Berlin am 28.11. muss mit großer Sorge entgegengesehen werden. Da wird von bekannten Akteuren in den sozialen Medien mobilisiert."
Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
"Ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem Brandanschlag auf unsere Synagoge in Berlin-Mitte hat sich die Lage für jüdisches Leben nicht verbessert. Besonders besorgniserregend ist die zunehmende Normalisierung von Judenhass im öffentlichen Raum, in Schulen, Universitäten und auf digitalen Plattformen, der RIAS-Halbjahresbericht bestätigt dies. Unsere Mitglieder, häufig äußerlich als Juden erkennbar, mussten im vergangenen Jahr unzählige physische und verbale antisemitische Übergriffe und Bedrohungssituationen im öffentlichen Raum erleben sowie sahen sich mit massiven Beleidigungen und Drohungen im digitalen Raum konfrontiert. Besonders hervorzuheben ist der Gewaltakt gegen eines unserer Gemeindemitglieder im Mai 2024. Dieser Zustand ist inakzeptabel. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich jüdisches Leben in Berlin nur noch hinter verschlossenen Türen abspielt."
Anna Chernyak Segal, Geschäftsführerin der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel