Höchststand antisemitischer Vorfälle in Deutschland

Höchststand antisemitischer Vorfälle in Deutschland

Quelle: Bundesverband RIAS e. V.
 
2023 dokumentierte der Bundesverband RIAS 4.782 antisemitische Vorfälle. Das ist eine Zunahme von über 80% im Vergleich zum Vorjahr. Rechnerisch wurden 13 antisemitische Vorfälle pro Tag erfasst. Mit den Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober 2023 kam es zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland.

Deutliche Zunahme gewalttätiger antisemitischer Vorfälle

Insbesondere zum Jahresende kam es zu einem Anstieg von gewalttätigen Vorfällen: Rund zwei Drittel aller Fälle von extremer Gewalt, Angriffen und Bedrohungen fanden nach dem 7. Oktober statt. In Berlin warfen zwei Unbekannte Mitte Oktober 2023 einen Brandsatz in Richtung eines jüdischen Gemeindezentrums. Im Ruhrgebiet kam es wenige Tage später zu zwei Brandanschlägen auf das Haus einer jüdischen Familie. Ebenfalls stiegen die Vernichtungsdrohungen gegen jüdische Personen und Institutionen nach dem 7. Oktober.

Antisemitismus prägt den Alltag von Jüdinnen_Juden in Deutschland

Mit den Terrorangriffen der Hamas nahmen antisemitische Vorfälle abrupt zu: RIAS-Meldestellen wurden zwischen dem 7. Oktober bis zum Ende des Jahres 2.787 antisemitische Vorfälle bekannt. RIAS dokumentierte somit in dem Zeitraum nach dem 7. Oktober mehr Vorfälle als im gesamten Vorjahr. Jüdinnen_Juden erfuhren Antisemitismus vermehrt aus dem eigenen Umfeld: Am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen, aber auch auf Social-Media-Plattformen. Die Gefährdung von Jüdinnen_Juden hat seit dem 7. Oktober objektiv zugenommen. Jüdisches Leben findet in Deutschland noch eingeschränkter als zuvor statt.

Antiisraelischer Aktivismus besonders präsent

2023 entfielen die meisten zuordenbaren Vorfälle auf den politischen Hintergrund des anti-israelischen Aktivismus. Dieser spielte besonders bei antisemitischen Versammlungen eine zentrale Rolle. Die Ablehnung des jüdischen Staates mobilisierte unterschiedliche politische Spektren. Häufig wurde in diesem Zusammenhang die Schoa relativiert oder geleugnet. Bei einer Versammlung Anfang November in Düsseldorf etwa wurde auf einem Plakat die Parole verbreitet "Liebe Zionisten, hört auf das zu tun was ihnen im 2ten Weltkrieg widerfahren ist!" (sic!)

Der Jahresbericht "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023" kann unter https://www.report-antisemitism.de eingesehen werden.

Der Bundesverband RIAS e. V. ist der Dachverband der RIAS-Meldestellen und verfolgt das Ziel einer einheitlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle auf Grundlage der IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Die RIAS-Meldestellen erfassen bundesweit antisemitische Vorfälle und vermitteln Unterstützung an Betroffene. In den Bericht flossen Vorfälle aus dem ganzen Bundesgebiet und von Meldestellen in elf Bundesländern ein.

Stimmen zur Veröffentlichung des Jahresberichts 2022

Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS e. V.: "Grundrechte gelten für alle, auch für Jüdinnen und Juden. Diese Selbstverständlichkeit sehen wir seit dem 7. Oktober 2023 bedroht. In allen Lebensbereichen werden Jüdinnen und Juden angefeindet, bedroht, und angegriffen. Ein offenes jüdisches Leben ist daher seit dem 7. Oktober noch weniger möglich als zuvor. Der präzedenzlose Anstieg antisemitischer Vorfälle muss als Weckruf verstanden werden: Der Staat trägt die Verantwortung, für Jüdinnen und Juden eine sichere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten. Nicht zuletzt liegt es an uns allen der Normalisierung von Antisemitismus Einhalt zu gebieten."

Bianca Loy, Ko-Autorin und wissenschaftliche Referentin des Bundesverbands RIAS e.V.: "Die antisemitischen Massaker und Terrorangriffe in Israel motivieren Menschen in Deutschland, sich antisemitisch zu verhalten. Vielfach wurden bereits bekannte antisemitische Stereotype aktualisiert und auf die Massaker der Hamas und den Krieg in Israel und Gaza übertragen. Dabei wurde die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden gerechtfertigt, relativiert oder geleugnet. Antisemitismus prägt den Alltag von Jüdinnen und Juden und zwingt viele ihre jüdische Identität zu verbergen. Dieser Zustand ist beunruhigend und nicht hinzunehmen."

Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus: "Die zahlreichen Maßnahmen zur Repression judenfeindlicher Gewalt zeigen, dass die Bundesregierung den seit dem 7. Oktober 2023 ausufernden Antisemitismus mit höchster Priorität behandelt. Wir werden im Kampf gegen Judenhass auch weiterhin nicht ruhen, bis ein RIAS-Jahresbericht erscheinen kann, in dem kaum oder gar keine antisemitischen Vorfälle mehr zu verzeichnen sind."

Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland: "Anfeindungen, Übergriffe und das Gefühl ständiger Bedrohung sind für viele Jüdinnen und Juden Realität. Sorge bereitet vielen auch die Frage, ob in Zukunft ein freies und sicheres Leben als Juden in Deutschland möglich sein wird. Jüdisches Gemeindeleben kann nur unter höchsten Sicherheitsbedingungen stattfinden. Antisemitisches Gedankengut reicht von ganz links bis ganz rechts und in die Mitte der Gesellschaft hinein. Nur, wenn wir dies in aller Klarheit benennen, können wir dagegen ankämpfen. Die Arbeit von RIAS leistet hierfür einen wichtigen Beitrag."

Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK e.V., Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung: "Unmittelbar nach dem Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 kam es in Deutschland zu zahlreichen antizionistischen (und antisemitischen) Versammlungen, Demonstrationen sowie Aufrufen zu Gewalt gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Jüdinnen und Juden, die sich an OFEK wenden, beschreiben einschneidende Veränderungen, die der Anschlag für ihr Leben hervorbringt. Anstelle der Solidarität kommt es vermehrt zu antisemitischen Vorfällen und Straftaten. Besetzte Hörsäle, antisemitische Schmierereien, verbale und gar physische Übergriffe gehören inzwischen zum Alltag von jüdischen Studierenden. Die jüdische (und israelische) Herkunft, die Sprache, die sichtbaren jüdischen Symbole werden dabei zum Sicherheitsrisiko. Die Trauer und der Schmerz, die Sorge vor weiteren Eskalationen werden verstärkt durch antisemitische Grundstimmung und den Mangel an Schutz. Der Jahresbericht des Bundesverbands RIAS unterstreicht die Bedeutung der Betroffenenperspektive und verweist auf den drängenden Bedarf am Ausbau nachhaltiger Strukturen für Schutz, Beratung und Prävention."

 

Gemeinsame Erklärung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages zur Veröffentlichung des Jahresberichts Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023 durch den Bundesverband RIAS

Der Kampf gegen Antisemitismus ist für alle demokratischen Fraktionen im Bundestag eine gemeinsame Verpflichtung. Angesichts des historischen Höchststandes antisemitischer Vorfälle in Deutschland, die der Bundesverband RIAS in seinem Jahresbericht „Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023“ dokumentiert hat, ist diese Verpflichtung wichtiger denn je. Gerade seit dem 7. Oktober, an dem Terroristen der Hamas und anderer Terrororganisationen antisemitische Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung verübten, stiegen antisemitische Vorfälle massiv an.

Wir verurteilen jede Anfeindung gegen Jüdinnen und Juden und setzen uns für ein selbstverständliches, sichtbares und sicheres jüdisches Leben in Deutschland ein.

Simona Koß, MdB (SPD): "Jüdische Schulen unter Polizeischutz waren schon immer schwer zu ertragen. Die Ausbreitung von Antisemitismus führt dazu, dass Kinder schon in Kita und Grundschule Ausgrenzung erfahren. Ältere meiden bestimmte Orte, ziehen sich zurück oder geben Lehrveranstaltungen auf. Das ist nicht akzeptabel! Der sichere Schul- und Hochschulbesuch für alle muss gewährleistet sein. Dazu gehört auch der Schutz von Lehrkräften. Alle haben ein Recht auf Bildung in einer offenen Lern- und Lehratmosphäre."

Daniela Ludwig, MdB (CDU/CSU): "Der 7. Oktober 2023 stellt für Jüdinnen und Juden, auch in Deutschland, eine große Zäsur dar. Es ist unerträglich und nicht hinnehmbar, dass der Hamas-Terrorismus öffentlich bejubelt, Antisemitismus auf sogenannten Demonstrationen propagiert oder das Existenzrecht Israels geleugnet wird. Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson und der Schutz jüdischen Lebens in Deutschlands liegt in der Verantwortung des staatlichen Handelns. Die Bundesregierung muss klare Antworten liefern und auch strafrechtliche Konsequenzen müssen auf dem Fuße folgen."

Marlene Schönberger, MdB (Bündnis 90/Die Grünen): "Nach dem 7. Oktober haben wir ein katastrophales Maß an Antisemitismus erreicht. Der Jahresbericht vom Bundesverband RIAS zeigt einen unbedingten Handlungsbedarf, gerade wenn wir in den Bereich des Digitalen schauen. Soziale Medien kochen über vor antisemitischem Hass. Jüdinnen*Juden und andere Betroffene von Antisemitismus müssen sich zurückziehen, die Profile auf privat stellen und trotzdem sind die Nachrichteneingänge oft prall gefüllt mit Drohungen und Verachtung. Es ist unbedingt notwendig, dass mit den Möglichkeiten des Digital Services Act die Plattformen in die Pflicht genommen werden, konsequent zu prüfen, zu löschen und zu sperren."

Linda Teuteberg, MdB (FDP) : "Antisemitismus nimmt sich Platz, er betritt immer aggressiver den öffentlichen Raum. Der RIAS- Jahresbericht belegt erneut das erschreckende Ausmaß antisemitischer Straftaten und Äußerungen. Antisemitismus bedarf bundesweit einer klaren Definition: der internationalen IHRA-Arbeitsdefinition. Das Ausweichen auf Israelkritik als Deckmantel für antisemitische Äußerungen muss enttarnt werden. Wir stehen in Verantwortung für die Sicherheit und Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland und der Welt."

Petra Pau, MdB (Die Linke): "Die Sensibilisierung von Justiz und Behörden für antisemitische Straftaten ist dringender denn je. Antisemitische Vorfälle werden oft nicht als solche erkannt – das muss sich ändern. Es ist an der Zeit, eine wissenschaftlich fundierte und bundesweite Schulungsstruktur für Polizei und Justiz zu etablieren. Dieser Aufbau muss Hand in Hand gehen mit einer längst überfälligen Reform der KPMD-PMK-Statistik, denn auch Taten mit antisemitischen Bezügen sollten adäquat abgebildet werden. Darüber hinaus benötigen wir eine präzisere Zuordnung zu den Phänomenbereichen, damit diese Taten nicht in vagen Kategorien verschwinden."

Infos
Kontakt

Marco Siegmund
Referent für Press- und Öffentlichkeitsarbeit
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