Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung
Zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger haben ein hohes Interesse an den Europawahlen. Für den Wahlkampf wünschen sie sich eine Debatte über die aktuellen Krisen und europäische Lösungsansätze. Die große Mehrheit plädiert für eine kooperative und aktive Europapolitik der Bundesregierung.
Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben wenige Monate vor dem Urnengang ein hohes Interesse an der Europawahl. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung und des Progressiven Zentrums. Demnach geben zwei Drittel an, dass ihr Interesse an den Wahlen zum Europäischen Parlament sehr hoch oder eher hoch ist. Bei Anhängerinnen und Anhängern der AfD hingegen ist das Desinteresse besonders hoch: 15,3 Prozent von ihnen geben ein sehr geringes Interesse an, weitere 6 Prozent sind eher gering interessiert.
Wichtige Themen für die Bürgerinnen und Bürger sind Migration und Sicherheit/Verteidigung
Für den Wahlkampf wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger Debatten über krisenbehaftete Themen, die auch europäischer Lösungen bedürfen: 74,7 Prozent wollen, dass das Thema Migration diskutiert wird, gefolgt von Sicherheit/ Verteidigung (63,3 Prozent), Wirtschaft (48,8 Prozent), Klima/Energie (37,2 Prozent) und Inflation (37,1 Prozent). Mit Blick auf die Sicherheitspolitik hat die zukünftige Unterstützung der Ukraine eine hohe Relevanz: Mehr als 60 Prozent der Befragten plädieren für einen höheren (41,8 Prozent) oder gleichbleibenden (18,3 Prozent) Umfang der EU-Unterstützung der Ukraine. In den ostdeutschen Bundesländern spricht sich dagegen eine knappe Mehrheit von 51 Prozent für eine geringere Unterstützung der Ukraine aus.
Die Langzeitstudie „Selbstverständlich europäisch!?“ wurde 2024 zum sechsten Mal in Folge durchgeführt. Auch in diesem Jahr ist eine Mehrheit von 56,9 Prozent der Deutschen überzeugt, dass die EU dem eigenen Land mehr Vor- als Nachteile bringt. 57,3 Prozent der Befragten sagen, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann. Allerdings befinden sich beide Werte in der Langzeitbetrachtung in einem Abwärtstrend. Besonders deutlich ist dieser negative Trend bei der Beurteilung des wirtschaftlichen Nutzens von Europa: Den wirtschaftlichen Nutzen der EU für Deutschland sehen derzeit nur 45,2 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Diese pessimistische Wahrnehmung dürfte auch mit der Krise der hiesigen Wirtschaft zusammenhängen.
Die Mehrheit wünscht sich ein kooperatives und aktives Auftreten Deutschlands in Europa
Einfluss auf die Einstellungen zur EU hat auch das europapolitische Verhalten der Bundesregierung, die sich durch kurzfristige Enthaltungen bei EU-Gesetzesvorhaben zuletzt als wenig zuverlässig präsentierte. Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Bundesregierung sind dabei jedoch klar: Für die Zukunft wünscht sich eine Mehrheit von knapp zwei Dritteln ein kooperatives und aktives Auftreten Deutschlands in Europa. Schließlich setzt eine Mehrheit Hoffnung in die europäische Ebene: 53 Prozent sind der Meinung, dass den aktuellen Krisen eher mit europäischen als nationalen Lösungsansätzen begegnet werden kann. Sehr große Unterstützung findet bei den Bürgerinnen und Bürgern, gemeinsam mit den EU-Partnern mehr in Zukunftsaufgaben zu investieren. Knapp zwei Drittel (65 Prozent) sprechen sich zudem dafür aus, den Mitgliedsstaaten mehr Spielraum für Investitionen zu geben.
"Das hohe Interesse an der Europawahl ist eine Chance für die pro-europäischen Kräfte. Europaskeptische Wählerinnen und Wähler sind eher desinteressiert an der Wahl. Die Parteien sollten den Wahlkampf für die Diskussion europäischer Lösungsansätze für aktuelle Krisen in den Feldern Sicherheit, Klima, Migration nutzen", sagt Dr. Johannes Hillje, Ko-Autor der Studie und Policy Fellow beim Progressiven Zentrum. Ko-Autorin Dr. Christine Pütz, Heinrich-Böll-Stiftung, erklärt dazu: "Es ist besorgniserregend, dass der Glaube an den wirtschaftlichen Nutzen der EU abnimmt. Dabei profitiert kein anderes Land vom EU-Binnenmarkt wie Deutschland. Die demokratischen Parteien sind in der Verantwortung, diesbezügliche Desinformation durch Fakten zu widerlegen. Die zahlreichen Blockaden der Bundesregierung auf EU-Ebene sind dagegen nicht hilfreich, den Blick auf Europas Handlungsfähigkeit zu stärken."
"Die Europawahl darf nicht für Debatten über nationale Nebenschauplätze zweckentfremdet werden." Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, kommentiert die Umfrageergebnisse wie folgt: "Die Europawahl darf nicht für Debatten über nationale Nebenschauplätze zweckentfremdet werden. Dafür sind die europapolitischen Herausforderungen angesichts von Klimakrise, Krieg auf dem Kontinent und unklarer Zukunft der transatlantischen Beziehungen zu bedeutsam. Wir müssen stattdessen darüber diskutieren, wie wir Europas Resilienz durch Investitionen in Sicherheit, Innovation und eine sozial-gerechte Weiterentwicklung des European Green Deal stärken.“
Für die Studie "Selbstverständlich europäisch!? 2024 – Stimmung der Bürgerinnen und Bürger vor der Europawahl" hat das Meinungsforschungsinstitut Civey im Feb ruar 2024 online 5.000 Personen befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren.