Chancen-Aufenthalt: Mindestens 75.000 Anträge gestellt

Chancen-Aufenthalt: Mindestens 75.000 Anträge gestellt

Quelle: Mediendienst Integration

Seit rund einem Jahr können Menschen, die zum Stichtag 31. Oktober 2022 mindestens fünf Jahre mit einer Duldung in Deutschland leben, den sogenannten Chancen-Aufenthalt beantragen. Die 18-monatige Aufenthaltserlaubnis ermöglicht den zuvor Geduldeten, die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen.

Aus einer Befragung der zuständigen Länderministerien durch den Mediendienst Integration geht hervor, dass im vergangenen Jahr mindestens 75.000 Personen den Chancen-Aufenthalt beantragt haben. Bisher wurden rund 54.000 Aufenthaltserlaubnisse nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht erteilt. Etwa 4.000 Anträge wurden abgelehnt.

Die Gesamtzahl gestellter Anträge dürfte deutlich höher liegen, da im vergangenen Jahr nur 11 von 16 Bundesländern Daten dazu erhoben haben und nicht allen Bundesländern Zahlen für das Gesamtjahr vorliegen. Ein Antrag kann für Angehörige mitgestellt werden und daher mehrere Personen umfassen. Gemessen an der potenziellen Gesamtgruppe, also Geduldeten, die zum Stichtag seit mindestens fünf Jahren in Deutschland lebten, sind besonders viele Anträge in Bayern, Berlin und Sachsen-Anhalt eingegangen.

Die Erfolgschancen bei Antragstellung sind in vielen Bundesländern hoch: Schleswig-Holstein hat die meisten Chancen-Aufenthaltstitel im Verhältnis zu gestellten Anträgen erteilt. Auch in Niedersachsen und Berlin haben die Ausländerbehörden einen Großteil der Anträge angenommen. Zu den Ablehnungen haben nur einzelne Bundesländer Daten. Anhand dieser Daten kann man sagen: Nur wenige Anträge wurden abgelehnt. In Hamburg, wo es die höchste Ablehnungsquote im Verhältnis zu den gestellten Anträgen gab, wurden lediglich 353 Anträge abgelehnt – bei insgesamt fast 2.200 Anträgen.
Schon jetzt hat das Chancen-Aufenthaltsrecht dazu beigetragen, dass die Zahl der in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen Personen um rund 20 Prozent zurückgegangen ist.

Wann kann eine geduldete Person den Chancen-Aufenthalt beantragen?

Zu den Voraussetzungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht gehört: Die Person muss mindestens fünf Jahre in Deutschland ununterbrochen geduldet sein, darf keine Straftaten begangen und nicht absichtlich über ihre Identität getäuscht haben. Außerdem muss sie sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik bekennen. Insgesamt gibt es laut Ausländerzentralregister rund 137.000 Geduldete, die zum Stichtag länger als fünf Jahre in Deutschland lebten.

Wie viele bekommen ein dauerhaftes Bleiberecht?

Im Moment lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, wie viele der geduldeten Personen, die den Chancen-Aufenthalt bekommen haben, am Ende der 18 Monate einen dauerhaften Aufenthaltstitel erhalten werden. Es zeigt sich jedoch schon jetzt, dass zahlreiche Geduldete die Bedingungen für einen langfristigen Aufenthaltstitel sofort oder sehr bald nach Erteilung des Chancen-Aufenthalts erfüllen konnten. In mehreren Bundesländern haben Geduldete bereits die vorgesehenen Anschlusstitel nach den Paragraphen 25a und b des Aufenthaltsgesetzes erhalten:

  • In Bayern erhielten mindestens 1.244 Personen direkt einen solchen langfristigen Aufenthaltstitel. Rund 100 Personen haben sonstige Aufenthaltstitel erhalten (Stand: Dezember 2023).
  • In Schleswig-Holstein haben 316 Personen eine Aufenthaltserlaubnis bekommen (Stand: Dezember 2023).
  • In Bremen und Rheinland-Pfalz waren es jeweils mindestens 100 Personen (Stand: November 2023).
  • In Nordrhein-Westfalen konnten 289 Personen in einen langfristigen Aufenthaltstitel wechseln (Stand: August 2023).

Von der Kommunikation hängt viel ab

Wie viele geduldete Personen einen Chancen-Aufenthalt beantragt haben, hängt auch von der Kommunikation der zuständigen Behörden ab: Einige Bundesländer wie etwa Baden-Württemberg schickten Rundschreiben an alle berechtigten Personen. Andere wie Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen fingen Monate vor Inkrafttreten des Gesetzes an, Geduldete gezielt zu informieren. Spezielles Infomaterial gab es auch in Bremen, Hessen, dem Saarland und Schleswig-Holstein.

Auch viele Ausländerbehörden haben eigene Infokampagnen gestartet: Die Ausländerbehörde der Stadt Hannover schrieb im Januar 2023 rund 1.200 Personen an, für die das Chancen-Aufenthaltsrecht in Frage kam. Die Kampagne sei ein Erfolg gewesen, berichtet Ingo Dietz, Leiter des Bereichs Standesamt und Staatsbürgerschaft der Stadt: Knapp 90 Prozent hätten sich zurückgemeldet. "Wir sind chronisch überlastet. Aber wir haben uns die Kapazität genommen und das Chancen-Aufenthaltsrecht als ein prioritäres Vorhaben betrachtet", so Dietz.

Auch Caroline Mohrs, Referentin im Projekt "Wege ins Bleiberecht" beim niedersächsischen Flüchtlingsrat zieht eine positive Bilanz: Viele Ausländerbehörden hätten Geduldete angeschrieben oder direkt angesprochen, wenn für diese die Möglichkeit bestehe, von der Duldung in eine Aufenthaltserlaubnis oder in das Chancen-Aufenthaltsrecht zu wechseln. Auch bei Verlängerung der Duldung werde von einigen Ausländerbehörden automatisch geprüft, ob das Chancen-Aufenthaltsrecht für die Personen in Betracht kommen könnte.

Es gibt allerdings auch Kommunen, in denen nur wenige Aufenthaltstitel erteilt wurden – zum Teil, weil die Behörden nicht ausreichend über die Voraussetzungen informiert waren, so Mohrs. Von ähnlichen Erfahrungen berichtet auch Johanna Böhm, Mitarbeiterin beim Bayrischen Flüchtlingsrat: "Es kam in manchen Fällen vor, dass Ausländerbehörden Pässe oder Sprachnachweise verlangt haben, obwohl das keine Voraussetzungen für die Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrecht sind." Die Flüchtlingsräte in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Bayern haben in den vergangenen Monaten Befragungen zum Chancen-Aufenthaltsrecht durchgeführt.

Sprachbarrieren könnten ebenfalls Probleme bereiten, so Lisa Kurapkat, Projektleiterin des Projektes "Bleiberecht und Perspektiven" vom Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz: "Eine Schwierigkeit ist oft das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Dabei ist nicht der Inhalt das Problem, sondern die Sprache." Viele Ausländerbehörden würden sich an den Anforderungen der Einbürgerung orientieren, bei der auch Deutschkenntnisse vorausgesetzt werden. Für die Erteilung des Chancen-Aufenthaltstitels gibt es hingegen keine sprachlichen Voraussetzungen.

Entscheidend war die Zusammenarbeit von Ausländerbehörden und unabhängigen Beratungsstellen: "Menschen, die schon viele Jahre geduldet sind, haben meistens eher schlechte Beziehungen zur Ausländerbehörde, weil sie ja eigentlich ständig konkret von Abschiebung bedroht sind", sagt Mohrs. Wenn Beratungsstellen auf geduldete Personen zugehen, hätten diese weniger Vorbehalte. Die stärkere Vernetzung sei für alle Beteiligten vorteilhaft.

Von Sophie Thieme

Dieser Text erschien zuerst am 25.01.2024 beim Mediendienst Integration unter der Creative Commons-Lizenz CC BY 3.0 DE.

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