Quelle: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung
In Berlin hat am Mittwoch, 23. Juni 2021, das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung eröffnet. Das Haus ist Deutschlands erster und einziger Lern- und Erinnerungsort, der Zwangsmigrationen in Geschichte und Gegenwart ins Zentrum stellt. Gerahmt von spektakulärer Architektur erwarten das Publikum auf mehr als 5.000 Quadratmetern eine Ständige Ausstellung, wechselnde Sonderausstellungen, eine Bibliothek mit Zeitzeugenarchiv sowie Bildungsangebote und Veranstaltungen. Eine Besonderheit ist der Raum der Stille zum Innehalten.
Vor allem in Kriegen und bewaffneten Konflikten müssen Menschen fliehen oder werden vertrieben. Fern ihrer Heimat bauen sie unter meist widrigen Umständen ein neues Leben auf. Was sind die Ursachen für diese leidvolle, bis heute millionenfache Erfahrung? Was bedeutet Zwangsmigration für die Betroffenen? Warum trifft es besonders Frauen, Kinder und alte Menschen? Und wieso ist die Erinnerung an Vertreibungen oft umstritten? Um diese und viele andere Fragen geht es im neuen Dokumentationszentrum.
"Wir sagen: Vertreibungen sind ein Unrecht und benennen die Verursacher des Leids."
Direktorin Dr. Gundula Bavendamm erklärt den Ansatz der über viele Jahre gewachsenen neuen Kultureinrichtung in der Hauptstadt: "Im Dokumentationszentrum geht es um Flucht und Vertreibung der Deutschen, aber auch um die vielen anderen Menschen, die Zwangsmigration erleben mussten und bis heute erleben. Im Geist der Versöhnung schließen wir damit eine Lücke in der deutschen Erinnerungskultur. Wir sagen: Vertreibungen sind ein Unrecht und benennen die Verursacher des Leids. Unsere Empathie gilt allen Flüchtlingen und Vertriebenen. Historische und politische Phänomene werden sachlich und auf dem Boden der Wissenschaft erklärt. Auf diese Weise wirken wir Polarisierungen, aber auch Relativierungen entgegen. Das neue Haus versteht sich als ein Diskussionsangebot für alle Interessierten."
Die Ausstellung schildert eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen vom 20. Jahrhundert bis in unsere Zeit. Im Mittelpunkt stehen Flucht und Vertreibung von rund 14 Millionen Deutschen im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Politik.
Im ersten Obergeschoss tauchen Besucherinnen und Besucher in eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen ein. Sechs Themeninseln dienen als Einführung und Überblick. Sie können in beliebiger Reihenfolge entdeckt werden. Großformatige Exponate und Objektinstallationen an jeder Insel wecken die Neugier.
Die Deutschen als Verursacher und Betroffene von Vertreibungen
Anhand zahlreicher Beispiele aus dem 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart geht es in diesem Teil der Ausstellung um die Ursachen, Phänomene und Folgen von Zwangsmigrationen allgemein. Die Deutschen begegnen dem Publikum als Verursacher und Betroffene von Vertreibungen. Filme, Bilder und Objekte machen die Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen unmittelbar anschaulich. Der Pass einer deutschen Jüdin mit einem aufgestempelten "J", das Tagebuch eines jungen Mädchens aus Ostpreußen über erlittene sexuelle Gewalt, das Foto eines Theaters in Athen, das als Flüchtlingslager dient oder das Smartphone eines syrischen Flüchtlings – die Exponate führen zu universellen Fragen. Wie hängen die Idee der Nation und der Nationalismus zusammen? Warum sind Minderheiten besonders oft von Vertreibungen betroffen? Wie kommt es dazu, dass Vertreibungen heute international strafbar sind? Welche Erfahrungen machen Flüchtlinge und Vertriebene auf Ihrer Flucht? Was bedeutet das Leben in Lagern für diese Menschen? Wie gelingt ihnen nach dem Verlust der Heimat ein Neuanfang? Und warum ist die Erinnerung an Zwangsmigrationen oft so umstritten?
Im zweiten Obergeschoss geht es vertiefend um Flucht und Vertreibung der Deutschen. Ein chronologischer Rundgang führt das Publikum durch drei Bereiche. Projektionen an den Wänden lassen einzelnen Personen oder Familien hervortreten und schaffen eine besondere Atmosphäre.
Zu Beginn werden die nationalsozialistische Politik, der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa und der Holocaust thematisiert. Eine Installation dokumentiert die Planungen der Alliierten für die Vertreibung der Deutschen während des Krieges bis hin zu den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz. Anhand von oftmals persönlichen Zeugnissen geht es im Anschluss um Evakuierungen und die massenhafte Flucht der Deutschen vor der Roten Armee.
500 Exponate und 45 internationale Leihgaben sind zu sehen
Im zweiten Abschnitt stehen Vertreibungen als ein Mittel zur Neuordnung Europas durch die Siegermächte und die ostmitteleuropäischen Staaten im Mittelpunkt. Davon betroffen sind rund 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den südosteuropäischen Siedlungsgebieten, aber auch Millionen Menschen aus Polen, der Ukraine oder Weißrussland. Rund 500 Exponate aus der Sammlung der Stiftung sowie 45 internationale Leihgaben führen die menschlichen Schicksale lebendig vor Augen.
Der dritte Abschnitt dreht sich um die Ankunft und Verteilung von 12,5 Millionen Menschen in den Besatzungszonen in Deutschland. Mit zahlreichen Originalen, Dokumenten und Medienstationen wird die allmähliche und nicht immer einfache Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR geschildert. Ein Akzent liegt dabei auf der Erinnerungskultur.
Die Ständige Ausstellung endet mit einem europäischen Epilog. Meilensteine einer neuen Staatenordnung seit Ende des Kalten Krieges und die Wiederkehr von Flucht, Vertreibung und ethnischen Säuberungen in Europa durch die Jugoslawien-Kriege sind hier Thema. Auch die Gründungsgeschichte der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird thematisiert.
Sonderausstellungen
Ab Frühjahr 2022 wird das Dokumentationszentrum in einem 400 Quadratmeter großen Saal im Erdgeschoss wechselnde Sonderausstellungen zeigen. Den Auftakt macht die aus dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main übernommene Präsentation "Unser Mut. Juden in Europa 1945-48".
Bibliothek und Zeitzeugenarchiv
In dem wohnlichen Saal im ersten Obergeschoss können Interessierte an 40 Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen forschen, lesen und stöbern: in den Sammlungen der Stiftung, aber auch in anderen Beständen und Datenbanken zur Familienforschung (z. B. Lastenausgleichsarchiv, Archion, Ancestry). Das Team des Hauses steht bei Bedarf mit professionellem Rat zur Seite.
Bildungsangebote und Veranstaltungen
Als einzigartiger Lern- und Erinnerungsort richtet sich das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung speziell an Schulklassen, Jugendgruppen und Erwachsene. Abwechslungsreiche Führungen durch Vermittlerinnen des Hauses, Workshops mit thematischen und regionalen Schwerpunkten und Fortbildungen für Lehrkräfte stehen auf dem Programm. Im Veranstaltungssaal im Erdgeschoss finden ab Herbst 2021 Veranstaltungen wie Lesungen, Filmvorführungen, Vorträge und Diskussionen statt.
Inklusion und Partizipation
Alle öffentlichen Bereiche sind barrierefrei. Ein taktiles Bodenleitsystem, Tastmodelle sowie Kennzeichnungen in Braille-Schrift erleichtern die Orientierung für alle. In der Ständigen Ausstellung gibt es neun Erklärfilme in leichter Sprache und Gebärdensprache sowie zwölf Zwei-Sinne-Objekte ein eindrückliches Bildungserlebnis. Führungen finden auch in einfacher Sprache und für Menschen mit Sehbehinderung sowie in Gebärdensprache statt.
Shop und Restaurant
Im historischen Ambiente des Erdgeschosses gibt es einen Shop mit Fachliteratur, Geschenkartikeln und Souvenirs. Das Restaurant "Margarete" eröffnet ab August 2021 pandemiebedingt schrittweise.