Quelle: Sea-Watch
Vor einem Jahr steuerte Kapitänin Carola Rackete das Rettungsschiff Sea-Watch 3 unautorisiert in den Hafen von Lampedusa. Mehr als zwei Wochen zuvor hatte dessen Crew 53 Menschen aus Seenot gerettet. Der damalige italienische Innenminister, Matteo Salvini, verweigerte dem Schiff die Einfahrt in den Hafen. Während der mehr als zweiwöchigen Pattsituation verschlechterte sich die Situation an Bord, während ganz Europa zuschaute, ohne eine Lösung anzubieten. Infolge der Einfahrt in den Hafen von Lampedusa am 29.06.2019, unter Berufung auf Notstandsrecht, wurde Kapitänin Rackete vorübergehend festgenommen. Im Januar 2020 entschied der Oberste Gerichtshof Italiens, dass ihre Verhaftung nicht gerechtfertigt war.
Rackete: Keine Interviews zum Jahrestag
Trotz vieler Anfragen wird sie im Zusammenhang mit dem Jahrestag der Rettung keine Interviews geben. Im Folgenden erklärt sie, warum dies so ist.
Carola Rackete: "Vor einem Jahr haben meine Crew und ich 53 Menschen aus Seenot gerettet. Unsere Crew musste dies als Teil der zivilen Rettungsflotte tun, weil die Europäische Union all ihre Schiffe von ihrer Seegrenze zurückgezogen hatte, wohlwissend, dass vor dem andauernden Krieg in Libyen Flüchtende die Überfahrt versuchen werden. Unsere Besatzung musste auf See sein, weil wir für uns außer Frage steht, dass Menschenrechte universell sind und sich, wie auch das Seerecht, nicht um Pässe scheren. Ich hatte das Gefühl, dass wir nicht nur zum Retten auf See sein mussten, sondern auch als Zeichen des Widerstands gegen den strukturellen Rassismus der europäischen Behörden.
"Frontex die Gelder entziehen."
Der strukturelle Rassismus ist in der EU ebenso ein Problem wie in den USA. Wenn #BlackLivesMatter in den USA fordert, den Polizeibehörden die Finanzierung zu entziehen, müssen wir folglich auch #DefundFrontex in Europa fordern und Frontex die Gelder entziehen. Das ganze Konzept dieser Agentur besteht darin, die rassistische Grenzpolitik der europäischen Staaten durchzusetzen. Erst diese Woche hat Sea-Watch beobachtet, wie ein Frontex-Flugzeug eine illegale Pushback-Operation nach Libyen koordinierte, nur einer von vielen bekannten und dokumentierten Fällen.
"Die Corona-Pandemie wird als Vorwand genutzt, um Menschenrechte auszusetzen."
Ich muss vielleicht auch noch einmal darauf hinweisen, dass sich trotz der neuen italienischen Regierungskoalition innerhalb der EU und an der EU-Außengrenze nichts grundlegend geändert hat. Wenn überhaupt, dann hat sich die Lage im letzten Jahr weiter verschlechtert. Malta an erster Stelle, aber auch andere europäische Staaten einschließlich Deutschland, nutzen die Corona-Pandemie als Vorwand, um Menschenrechte auszusetzen und das Seerecht zu brechen.
Am Osterwochenende wurden Schiffbrüchige, obwohl ihre Position den EU-Behörden bekannt war, tagelang in der maltesischen Rettungszone sich selbst überlassen, ohne dass eine Rettung eingeleitet wurde. Sie wurden von einem privaten "Geisterflottenschiff" abgefangen, welches die maltesische Regierung angeheuert hatte, um die 51 Überlebenden und 5 Leichen illegal nach Libyen zurück zu schleppen. Sieben weitere von ihnen waren zuvor ertrunken. Über weitere Fälle können wir fast nichts wissen, da zivile Augen auf See unerwünscht sind. Verschiedene europäische Staaten, darunter Spanien, Malta, Italien, die Niederlande und Deutschland, behindern weiterhin Rettungs- und Suchmissionen auf See und aus der Luft.
"Menschen ertrinken, weil die Europäische Union es so will."
Alle EU-Bürger*innen sollen wissen: Die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken - mindestens 96 Tote innerhalb dieses Monats - sind nicht die Opfer eines unerwarteten Unfalls oder einer Naturkatastrophe. Sie ertrinken, weil die Europäische Union es so will. Um diejenigen abzuschrecken, die ebenfalls die gefährliche Route über das Mittelmeer wagen könnten. Sie ertrinken, weil Europa ihnen den Zugang zu sicheren Routen verweigert und ihnen keine andere Möglichkeit lässt, als ihr Leben auf See zu riskieren. Und niemand würde ein solches Boot besteigen, wenn es an Land sicherer wäre!
"Wir müssen die 'Festung Europa' niederreißen."
Wir, als europäische Bürger*innen, müssen diese Politik stoppen! Wir müssen die 'Festung Europa' niederreißen, die geschaffen wurde, um die Armen vor der Mittelmeerküste ungesehen sterben zu lassen. Gleichheit und Freiheit darf kein Privileg sein, alle müssen sich ohne Angst um ihr Leben frei bewegen können.
Bis dies Wirklichkeit wird, wird die zivile Seenotrettung weiterhin wie eine freiwillige Feuerwehr versuchen Brände zu löschen, die von den Brandstiftern der EU und des globalen Nordens vorsätzlich gelegt wurden. Und obwohl der Oberste Gerichtshof Italiens meine Entscheidung bestätigt hat, in den Hafen einzulaufen und die Menschen gemäß dem Seerecht in Sicherheit zu bringen, geht die Kriminalisierung der Seenotrettung weiter; in meinem Fall und bei den Ermittlungen gegen andere, die sich solidarisch für Menschen auf der Flucht einsetzen.
"Ich möchte nicht diejenige sein, die spricht."
Diese Geschichte sollte jedoch überhaupt nicht von mir handeln. Deshalb möchte ich nicht diejenige sein, die spricht. Dass ich und andere freiwillige Rettungskräfte im Mittelmeer immer wieder als Held*innen dargestellt werden, ist eine zutiefst problematische Erzählung. Sie entzieht den Menschen, die wir gerettet haben, das Rampenlicht und schafft fälschlicherweise die Illusion, dass manche Menschen einzigartig oder anders sind. Aber wie die meisten Europäer*innen sind wir - als Crew der Sea-Watch 3 - vor allem eines: privilegiert. Das bedeutet nicht, dass wir im Leben keine Probleme haben. Es bedeutet, dass ich als Weiße keine Sekunde lang befürchtet habe, bei der Verhaftung oder später in einer Zelle von der Polizei getötet zu werden, so wie es vielen Schwarzen, auch in Deutschland, ergangen ist. Hier müssen wir handeln.
"Held*innen sind die Menschen, denen wir auf See begegnet sind."
Wenn es in dieser Geschichte Held*innen gibt, dann sind es die Menschen, denen wir auf See begegnet sind und die so viel mehr überlebt haben als die Überquerung des Meeres in einem seeuntüchtigen Boot. Es ist nicht nötig, dass eine Weiße als vermeintliche "Stimme der Stimmlosen" die Bühne betritt. Die von uns geretteten Menschen mögen viele Dinge in ihrem Leben verloren haben, aber nicht ihre eigene Stimme. Sie sind die Expert*innen ihrer eigenen Erfahrungen. Wenn wir den strukturellen Rassismus überwinden wollen, sollten wir damit beginnen, ihnen zuzuhören. Aus diesem Grund werde ich zum Jahrestag der Rettungsmission der Sea-Watch 3 keine Interviews geben. Hört stattdessen auf diejenigen, die Europa ertrinken lassen würde, um das Erreichen unserer Küsten zu verhindern. Gebt ihren Stimmen Gehör."
Online-Panel am 29. Juni 2020 um 16 Uhr
Um diesen Stimmen Gehör zu verschaffen, wird Carola Rackete am Montag, 29. Juni 2020, zum Jahrestag ihrer Einfahrt in den Hafen von Lampedusa und ihrer Verhaftung ein Online-Panel veranstalten. Carola Rackete wird nur die Moderatorin sein, es wird keine Fragen und Antworten zur Situation von Sea-Watch oder ihrem Fall geben.
Der Live Stream des Podiums wird um 16 Uhr über folgenden Link abrufbar sein: https://youtu.be/XZ3QztOssJE
Auf dem Podium:
- Hassan Zakaria Omar: Überlebte den Luftangriff auf das Tajoura-Gefängnis in Tripolis, wo Hunderte von Flüchtenden ohne Rechtsgrundlage inhaftiert waren. Er befindet sich noch immer in Libyen und kann daher nur teilnehmen, wenn die Umstände es zulassen.
- Abdul Aziz Muhamat: Ursprünglich aus dem Sudan verbrachte er sechs Jahre in australischer Offshore-Gefangenschaft. Wenn auch nicht im Mittelmeerraum angesiedelt, zeigt sein Fall deutlich warum wir nicht zulassen dürfen, dass Menschen extraterritorial zwangsinterniert werden, an Orten wo keine NGO und keine Zivilgesellschaft sie je erreichen können.
- Newroz Duman: Mit nur 12 Jahren trat sie, zusammen mit ihrer Familie, auf einem alten rostigen Frachtschiff die Flucht an. Wie Tausende andere, sah sie sich nach ihrer Ankunft in Deutschland mit den Widrigkeiten des deutschen Asylsystems und der Abschiebung von Familienangehörigen konfrontiert. Heute engagiert sie sich in verschiedenen Initiativen wie "Jugendliche ohne Grenzen" wo sie für Teilhabe und Empowerment von Geflüchteten und Migrant*innen ebenso kämpft, wie für Bleiberecht, Bewegungsfreiheit und für eine Gesellschaft ohne Rassismus. Darüber hinaus ist Newroz als Trauma-Pädagogin tätig.
- Muhammad al-Kashef: Ägyptischer Menschenrechtsanwalt und Migrationsaktivist, dem 2018 der Status politischen Asyls gewährt wurde. Er ist Mitglied von „Watch the Med – Alarm Phone“ und arbeitet als Anwalt und unabhängiger, beratender Forscher auf dem Gebiet der Migrationspolitik und der EU-Beziehungen zu den Ländern Nordafrikas. Er verfügt über eine langjährige Erfahrung in Community Organizing und zu Migrationsrouten von Afrika nach Europa. Er schreibt Studien und Berichte für verschiedene NGOs und Institutionen wie EIPR, EuroMed Rights, Rosa Luxemburg Stiftung und „Border Criminologies“ an der Universität Oxford.