Trotz viel Kritik will die EU-Kommission am EU-Tunesien-Deal festhalten. Der Deal treibt eine Art von Migrationspartnerschaft auf die Spitze, die diesen Namen nicht verdient. Und mehr Probleme schafft als löst. Das zeigt eine neue Publikation von Brot für die Welt und Misereor.
Die Aufregung war groß. Und kurz. Mitte September verweigerte der tunesische Präsident Kais Saied vier EU-Parlamentarier:innen die Einreise. Die vier wollten prüfen, ob es wirklich eine gute Idee sei, mit Tunesien eine Migrationspartnerschaft einzugehen. Einem Land, in dem die Regierung rassistische Hetze gegen Migrant:innen betreibt, und Kritiker:innen zunehmend mundtot macht. Michael Gahler, Delegationsleiter und Mitglied der konservativen EVP-Fraktion, beantwortete diese Frage im Anschluss an die gescheiterte Reise mit Nein. Der EU-Ombudsmann warf fast zeitgleich in einem Brief an die Kommission die Frage auf, wie der Deal mit menschenrechtlichen Ansprüchen der EU vereinbar sei. Es schien etwas in Bewegung zu geraten.
Doch wenige Tage später stellte die Kommissionspräsidentin auf Lampedusa klar, dass sie an der Vereinbarung festhalten wolle. Sogenannte Migrationspartnerschaften sehen Kommission und die meisten EU-Mitgliedsstaaten als eines der wichtigsten Instrumente zur Steuerung von Migration. Die "Partnerschaft" mit Tunesien zeigt exemplarisch, wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten dieses Ziel zur zentralen Säule ihrer Beziehung zu vielen Drittstaaten gemacht hat – und was sie dafür bereit ist zu opfern.
Migrations-Deals: Partner- oder Komplizenschaft?
2015 versuchte die EU erstmals, Migrationspartnerschaften mit fünf Ländern (Senegal, Mali, Niger, Nigeria und Äthiopien) abzuschließen. Das Versprechen an diese Länder lautete: Ihr unterbindet zukünftig irreguläre Migration in Richtung Europa – und bekommt im Gegenzug Zugeständnisse, insbesondere durch die Schaffung legaler Migrationswege in die EU. Bald jedoch entpuppten sich die Partnerschaften als einseitige Angelegenheit. Während die Abschottungskomponente mit viel Geld, Ausrüstung und Trainings forciert wurde, schuf die EU kaum neue Möglichkeiten der legalen Migration. Die Regierungen von Ländern wie Tunesien, Senegal oder dem Niger setzten die Kooperation bei der Migrationsabwehr trotzdem fort. Sie versprachen sich dadurch anderweitige Vorteile. Denn kooperationswillige Staaten bedachte die EU mit mehr Entwicklungsgeldern, förderte die Aufrüstung der Sicherheitskräfte und drückte bei den Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer öfter ein Auge zu.
Der Begriff der Partnerschaft ist daher irreführend für das Verhältnis, das sich so zwischen der EU und dem jeweiligen Drittstaat etablierte. Eher könnte man es als Komplizenschaft bezeichnen, bei der beide Seiten unterschiedliche Ziele verfolgen: Abschottung hier, Regimestärkung dort. Für den tunesischen Präsidenten Saied ging dieses Kalkül bisher auf. Obwohl er in den letzten Jahren ein immer autoritäreres Regime in Tunesien etabliert, Oppositionelle verfolgt und die unabhängige Justiz zunehmend demontiert, bleibt der große Aufschrei der EU aus. Zu wichtig war – und ist? – Tunesien für das Ziel, Überfahrten von Schutzsuchenden und Migrant:innen auf dem Mittelmeer zu verhindern.
Publikation: Tunesien – Europas Türsteher?
In einer gemeinsamen Publikation haben Brot für die Welt und Misereor die Kooperation der EU mit Tunesien im Migrationsbereich der vergangenen Jahre unter die Lupe genommen. Ebenso wie bei einer ähnlichen, kürzlich veröffentlichten Studie zum Niger stellt sie dem verengten Blick der EU, die Tunesien auf seine Rolle als Herkunfts- und Transitland verkürzt, die komplexe Migrationsrealität im Land gegenüber. Die Studie beleuchtet die wichtigsten Programme der bisherigen Migrationspartnerschaft und analysiert deren Folgen für Schutzsuchende, Migrant:innen, aber auch die tunesische Gesellschaft als Ganzes. Dabei wird klar, dass die EU die autoritäre Wende in Tunesien nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern durch die Aufrüstung der tunesischen Sicherheitsbehörden aktiv unterstützt hat. Das bekommt die tunesische Zivilgesellschaft bitter zu spüren, deren Vertreter:innen reihenweise im Gefängnis landen. Geflüchtete und Migrant:innen aus Sub-Sahara-Afrika wiederum müssen um ihr Leben fürchten, wenn sie vom staatlich angestachelten Mob durch die Straßen getrieben oder von tunesischen Sicherheitskräften mitten in der Wüste abgeschoben werden.
All diese Entwicklungen sind an sich katastrophal und nicht hinzunehmen. Sie sind aber auch für das eigentliche Ziel der EU, Migration Richtung Europa einzudämmen, kontraproduktiv. Der Vorsitzende der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES, Romdhane Ben Amor, verweist in der Publikation darauf, dass seit der autoritären Wende in Tunesien sich dort immer mehr Menschen in die Boote setzen. Tunesier:innen würden zunehmend die Hoffnung auf eine Zukunft im eigenen Land verlieren. Menschen aus Sub-Sahara-Afrika wollten nur noch weg, um ihr Leben zu schützen.
Die Debatte um Migrationspartnerschaften neu führen
Was in Europa oft als Realpolitik verkauft wird – Migrationspartnerschaften mit autoritären Regimen, um dem innenpolitischen Druck nach Abschottung nachzukommen –, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als verfehlte und schlecht informierte Politik. Eine Politik, die an ihren eigenen Zielen scheitert, das Leid vieler Menschen in den jeweiligen Ländern vergrößert – und der Glaubwürdigkeit der EU als Verfechterin von Demokratie und Menschenrechten schweren Schaden zufügt. Deswegen muss die Debatte um Migrationspartnerschaften grundlegend neu geführt werden. Die Publikationen zu den bisherigen Partnerschaften mit Tunesien und Niger sind ein Angebot, damit zu beginnen.
Dieser Text erschien zuerst am 22. September 2023 bei Brot für die Welt
Dr. Andreas Grünewald ist Referent für Migration bei Brot für die Welt
Kontakt: andreas.gruenewald@brot-fuer-die-welt.de