Geschlechtliche Identität als Fluchtgrund

Geschlechtliche Identität als Fluchtgrund
Immer wieder werden Asylanträge von queeren Geflüchteten abgelehnt – zum Teil im Widerspruch zu höchstrichterlichen Entscheidungen
Alva Träbert und Patrick Dörr

Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist ein zentraler Bestandteil menschlicher Lebensrealität an jedem Ort und zu jeder Zeit. Die Chancen auf ein freies, offenes und sicheres Leben hängen für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten jedoch stark vom soziokulturellen und politischen Kontext ab. Für viele Menschen, die aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder ihres gleichgeschlechtlichen Begehrens verfolgt werden, ist eine Flucht der einzige Weg, ihr Leben zu retten. Das Thema der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt ist somit auch zentral für die Asylarbeit in Deutschland.

Wie viele Personen Verfolgung aufgrund ihrer Sexualität oder geschlechtlichen Identität als Asylgrund geltend machen, wissen wir nicht genau, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sie unter "Asylsuchende aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung" subsumiert. Allerdings können wir der Statistik zu Asylerstanträgen entnehmen, dass 2019 etwa 85 Prozent der Asylsuchenden aus Ländern kamen, in denen staatliche Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Alltags ist. Aktuell werden beispielsweise in 70 Staaten weltweit einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen des gleichen Geschlechts strafrechtlich verfolgt, es drohen Geldstrafen, Freiheitsstrafen und Folter. In elf Staaten ist die Todesstrafe vorgesehen.

Verfolgt vom Heimatstaat, von der eigenen Familie

Diese staatliche Verfolgung bahnt überdies den Weg für Verfolgung durch Familienmitglieder, Gemeinschaften und die Zivilgesellschaft. Sexuelle und geschlechtliche Minderheiten sind häufig homo- und transfeindlicher Erpressung, Zwangsheirat, sexualisierter Gewalt, systematischer Ausgrenzung und massiver körperlicher Gewalt bis hin zu Mord weitgehend hilflos ausgesetzt. Auch in den 32 Staaten, in denen sogenannte „Propagandagesetze“ die Aufklärung über und das Eintreten für die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten verbieten, können Betroffene oft nicht mit staatlichem Schutz rechnen. Häufig ist die Verfolgung durch die eigene Familie Auslöser der Flucht.

Unzureichendes Anhörungsverfahren

Im Asylverfahren müssen sich sexuelle und geschlechtliche Minderheiten besonderen Herausforderungen stellen. Viele sind mit massiver rechtlicher, gesellschaftlicher und religiöser Stigmatisierung aufgewachsen und haben diese Vorurteile auch selbst internalisiert. Sie empfinden Angst und Scham. Sich in einer mehrstündigen Asylanhörung – die inzwischen oft bereits kurz nach der Ankunft in Deutschland erfolgt – einer fremden Person anzuvertrauen und offen über die eigene Identität und die damit verbundenen oft traumatischen Erlebnisse explizit zu sprechen, erfordert Mut und Kraft. Die Anwesenheit eines Sprachmittlers oder einer Sprachmittlerin aus demselben Kulturkreis, in dem die Verfolgungshandlungen sich zugetragen haben, erschwert die Situation oft zusätzlich. Überdies erfordert die Anhörung meist, dass Geflüchtete ihre Identität als gefestigt beschreiben und auch benennen können, obgleich westliche Identitätskonzepte wie Homosexualität nicht ohne weiteres auf andere kulturelle Kontexte übertragbar sind.

Gefährdung wird unterschätzt

CSD Stuttgart 2021
Foto: Raphael Renter on Unsplash

Im nächsten Schritt stellt auch die aktuelle Entscheidungspraxis des BAMF eine enorme Hürde für LSBTI-Asylsuchende dar (LSBTI: lesbisch, schwul, bi-, trans- und intersexuell, mit Offenheit für weitere geschlechtliche Identitäten). Auch Personen aus Staaten, die zum Beispiel lesbische oder schwule Menschen strafrechtlich verfolgen, werden häufig abgelehnt. Hier schätzen Asylbehörden die Gefahr, die einer schutzsuchenden Person bei Rückkehr drohen würde, oftmals als zu gering ein. Dies betrifft vor allem Asylsuchende, die in ihrem Herkunftsland aus Angst vor Verfolgung im Geheimen gelebt hatten und dadurch direkte Gewalterfahrungen vermeiden konnten.

Seit einem entsprechenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. November 2013 ist es nicht mehr zulässig, von Asylsuchenden ein diskretes Leben im Herkunftsland zu erwarten. In der Praxis geschieht dies jedoch leider noch immer, zum Beispiel, wenn die asylsuchende Person nicht klar über ihren Wunsch nach einem offenen Leben sprechen kann, weil diese Möglichkeit für sie noch kaum vorstellbar scheint.

EuGH: Das Geheimhalten der sexuellen Orientierung in Verfolgerstaaten ist nicht zumutbar

"Diskretion" stellte hierbei schon damals eine Beschönigung dessen dar, was von den Antragstellenden gefordert wurde: die lebenslängliche Unterdrückung ihrer sexuellen Orientierung oder das Führen eines Doppellebens. Bereits damals hätte aber auch klar sein müssen: Selbst bei größtmöglicher Geheimhaltung birgt das Ausleben von Homosexualität in Verfolgerstaaten immer die Gefahr, entdeckt, erpresst, geoutet, angegriffen, vergewaltigt oder gar ermordet zu werden.

Der EuGH entschied erfreulicherweise, dass Asylbehörden und Gerichte vernünftigerweise nicht erwarten dürfen, dass Antragstellende bei Rückkehr ins Herkunftsland ihre sexuelle Orientierung geheim halten oder Zurückhaltung beim Ausleben üben. Damit bestand die Hoffnung, dass BAMF und Gerichte lesbische, schwule und bisexuelle Personen nicht mehr in Staaten zurückweisen würden, in denen ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise deren Ausleben unter Strafe steht. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in seinem Beschluss vom 22. Januar 2020 nicht nur die Unzulässigkeit des "Diskretionsgebots", sondern stellte auch klar, dass bisexuelle Asylsuchende ebenso wenig auf die vermeintliche Möglichkeit eines heimlichen oder zurückhaltenden Auslebens verwiesen werden dürfen.

BAMF und Gerichte ignorieren höchstrichterliche Rechtsprechung

Statt LSBTI-Geflüchtete aus Verfolgerstaaten konsequent zu akzeptieren, fanden BAMF und Verwaltungsgerichte (VG) jedoch Wege, queere Asylsuchende mit getarnten "Diskretionsprognosen" in Verfolgerstaaten zurückzuschicken. Beispielsweise verweisen sie darauf, die in vielen Ländern bestehenden Strafgesetze würden mancherorts nur selten angewendet. Oder sie berechnen die Verfolgungswahrscheinlichkeit bei Rückkehr, indem sie die dokumentierten Urteile ins Verhältnis zur geschätzten Grundgesamtheit beispielsweise schwuler Männer in einem Land setzen. Dabei blenden sie aus, dass die meisten queeren Personen in einem Verfolgerstaat natürlich nicht offen leben und es aus diesem Grund wenig Verurteilungen gibt.

Im Grunde lautet die Aussage: Lebe so "diskret" wie die anderen Homosexuellen in deinem Land, dann passiert dir schon nichts. Auch wenn BAMF und Gerichte Geflüchtete in Verfolgerstaaten auf eine "interne Fluchtalternative" verweisen – zumeist die Großstädte –, basiert dies auf der Erwartung, dass sie dort nicht offen mit ihrer Sexualität umgehen, sondern diese verheimlichen würden. Allen diesen Argumentationsmustern ist somit gemein, dass ex- oder implizit eine Prognose angestellt wird, wie sich die Person bei Rückkehr verhalten werde.

Grundlage für solche Vorhersagen ist es dann, wie diese Person im Herkunftsland, wo ihre Identität geächtet und zumeist auch kriminalisiert war, gelebt hat und wie sie jetzt in Deutschland lebt. Die BAMF-Anhörungen finden allerdings meist bereits wenige Tage oder Wochen nach der Ankunft in Deutschland statt. Die Geflüchteten leben zu diesem Zeitpunkt meist in Sammelunterkünften, wo ein offen queeres Leben in der Regel äußerst gefährlich wäre. Nur die wenigsten outen sich in diesem Umfeld, zumal sie noch nicht wissen, ob sie nicht in die Heimat zurückgeschickt werden, so dass ein Outing in der Unterkunft bisweilen sogar lebensgefährlich sein könnte.

Die rechtswidrige Praxis ist vielfach dokumentiert

Foto: Raphael Renter on Unsplash

Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) hat die rechtswidrige Praxis der Diskretionsprognosen anhand von rund 70 Fällen dokumentiert und dem BAMF vorgelegt. Mehrere Verwaltungsgerichte erklärten diese Prognosen des BAMF für unzulässig. Das VG Braunschweig benannte in seinem Urteil vom 9. August 2021 zugunsten eines bisexuellen Iraners klar die Europarechtswidrigkeit dieser Praxis. Dem schloss sich das VG Leipzig in seinem Urteil vom 18. November 2021 zugunsten eines bisexuellen Nigerianers an und begründete dabei sehr eindrücklich, warum es der Schutzgewährung nicht im Weg stehen darf, wenn eine geflüchtete Person derzeit nicht offen leben möchte und kein Interesse an einer festen Beziehung zeigt. Beide Gerichte verwiesen auch auf einen sinnentstellenden Übersetzungsfehler in der deutschen Fassung des EuGH-Urteils, der nach einer Intervention des LSVD und der österreichischen Beratungsstelle Queer Base durch den EuGH korrigiert wurde.

Spätestens jetzt sollte eindeutig sein, dass Diskretionsprognosen nicht nur faktisch unhaltbar, sondern auch mit der EU-Rechtsprechung unvereinbar sind. Dennoch hat sich das Bundesamt auch in seinem neuesten Entscheiderbrief die Möglichkeit vorbehalten, weiterhin solche Verhaltensprognosen anzustellen. Seine spitzfindige Argumentation: Wenn sich bei einer Prognose ergebe, dass eine Person bei Rückkehr ihre Sexualität ohnehin aus eigenem freien Willen diskret leben würde, dann stelle sich die Frage ja gar nicht mehr, ob man ihr ein solches Leben zumuten könne. Es liegt nun an der neuen Bundesregierung, den europarechts- und verfassungswidrigen Argumentationsmustern des BAMF endlich einen Riegel vorzuschieben.

Wichtige Verfahrensgarantien

Die EU-Verfahrensrichtlinie sowie die deutsche Asylgesetzgebung sehen Maßnahmen vor, um besonders vulnerablen Asylsuchenden zu ermöglichen, ihrer Mitwirkungspflicht im Asylverfahren angemessen nachzukommen – sogenannte Verfahrensgarantien. Auch Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten können beispielsweise das Geschlecht der Person, die in ihrer Anhörung die Sprachmittlung übernehmen soll, wählen oder es einfordern, von Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung angehört zu werden. Häufig fallen LSBTI-Geflüchtete dabei in mehr als eine schutzbedürftige Gruppe. Viele haben beispielsweise Folter oder schwere sexualisierte Gewalt überlebt und leiden infolgedessen  unter Traumafolgen, sind psychisch erkrankt. Für sie sind Stabilisierungsfristen von mehreren Monaten vor der Anhörung möglich.

Schulungen für Mitarbeitende im Bereich Asyl

Die Umsetzung dieser Verfahrensgarantien sowie weiterer individuell schützender Maßnahmen setzt jedoch ein frühzeitiges Identifizieren schutzbedürftiger Personen voraus. Vielfach – bei der sexuellen Orientierung/geschlechtlichen Identität, aber auch bei nicht sichtbaren psychischen und physischen Erkrankungen, beim Vorliegen von Menschenhandel etc. – ist dabei die Mitwirkung der geflüchteten, schutzsuchenden Person notwendig. Zuerst muss sie über ihre Rechte informiert sein. Um die Voraussetzungen dafür sowie das nötige Vertrauen zu schaffen, gibt es eine Reihe praktischer Maßnahmen, die Aufnahmeeinrichtungen, Beratungsstellen und Behörden betreffen können.

Unterstützung bei der Umsetzung geeigneter Maßnahmen gibt es zum Beispiel durch Schulungsangebote des LSVD-Projekts Queer Refugees Deutschland, das auch die Asylverfahrensberatung des BAMF (die AVB) sensibilisiert. Das Projekt stellt außerdem vielsprachige Informationsmaterialien für Asylsuchende und für Fachkräfte bereit. Ein zielgruppenübergreifendes Konzept zur Erkennung besonderer Schutzbedürftigkeit entwickelt zurzeit das Modellprojekt BeSAFE. Der Schlüssel zur Umsetzung der Schutzrechte für asylsuchende Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten besteht im Aufbau nachhaltiger Strukturen zum frühzeitigen Identifizieren von Bedarfen und zu ihrer Umsetzung in Form geeigneter Verfahrensgarantien sowie weiterer Anschlussversorgung in der Unterbringung und im Gesundheitswesen. Von zentraler Bedeutung sind flächendeckende, frühzeitige Informations- und Beratungsangebote für besonders Schutzbedürftige. Der AVB kommt hierbei eine wesentliche Rolle zu. Ebenso bleiben unabhängige Angebote in freier Trägerschaft für die Qualität der rechtlichen Beratung im Asylverfahren unverzichtbar.

Dieser Text ist eine Zusammenfassung von zwei Artikeln aus dem Caritas-Magazin Migration und Integration-Info 1 / März 2022.

 

Alva Träbert ist Wissenschaftliche Projektreferentin von BeSAFE und Leiterin des NRW-weiten Schulungsprojekts LSBTI und Flucht des Vereins Rosa Strippe aus Bochum.

Patrick Dörr ist Mitglied des LSVD-Bundesvorstandes.

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