In ganz Deutschland bekennen sich Kirchengemeinden zu Antirassismus und Antidiskriminierung. Mit Kulturveranstaltungen, Diskussionsrunden, Protesten und vielem mehr verleihen sie ihrer Haltung Ausdruck. Dabei wird immer weniger oft das Fremde ausgestellt, um es wohlwollend zu begutachten, wie es bis vor wenigen Jahren in vielen Gemeinden noch üblich war. Heute wird öfter auf Augenhöhe gesprochen und immer mehr von Rassismus Betroffene sprechen für sich selbst.
Warum aber tun sich Menschen in vielen dieser Gemeinden noch so schwer, in Situationen rassistischer Übergriffe Solidarität zu leben?
Weiße Menschen genießen das Privileg, Rassismus nur aus Anschauung zu kennen. Alle Erzählungen weißer Menschen davon, wie auch sie einmal in der Minderheit waren und sich ausgegrenzt fühlten, greifen hier nicht. Denn Rassismus ist kein individuelles Erleben alleine, sondern eingebettet in eine gesellschaftliche Systematik, die Macht und Ohnmacht zugunsten der Mehrheitsgesellschaft verteilt.
Es ist eines der gängigsten Missverständnisse weißer Menschen über Rassismus, dass dieser die Opfer in einer spezifischen Situation individuell träfe. Er stellt sie aber vielmehr als Teil einer minderwertigen Gattung dar und beraubt sie so ihrer Individualität. Das Privileg, als Individuum verachtet zu werden, gibt es im Rassismus nicht. Es ist ein weißes Privileg. Deshalb ist es so wichtig, dass Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, Rassismus verstehen lernen.
"Solidarität mit den Opfern funktioniert nur über das Bewusstsein eigener Rassismen und Privilegien."
Solidarität mit den Opfern funktioniert nur über das Bewusstsein eigener Rassismen und Privilegien. Das macht es so schwer Antirassist*in zu sein. Auch in der Kirche ist das so. Zu oft wähnen wir Christ*innen uns durch das Christsein alleine schon als Menschenfreunde, Antirassist*innen, als Gutmenschen im besten Sinne. Gerade Menschen aus Afrika wurde das Menschsein auch von Christ*innen systematisch abgesprochen. Sie wurden über Jahrhunderte animalisiert, infantilisiert und so aus dem Kreis der Menschen herausgelöst, die gleich an Würde und Vermögen sind. Dieser Blick auf Schwarze Menschen ist in der Kirche immer noch lebendig. Auch wenn sich vieles gebessert hat.
Doch es fällt weißen Christ*innen offenbar weitaus schwerer, bei rassistischen Übergriffen aktiv solidarisches Verhalten zu zeigen, als ihre Solidarität bei Veranstaltungen zu Themen wie "Vielfalt" und "Interkultur" zu bekunden. Das liegt sicher daran, dass Rassismus zunächst als solcher erkannt werden muss. Es mag auch daran liegen, dass es nicht immer leicht ist, die Not eines Opfers zu erkennen, wenn man selbst diese Not nicht kennt. Vor allem glaube ich aber, dass Rassismus nicht zu unserem christlichen Selbstbild passt und wir deshalb geneigt sind, ihn in und um uns zu verleugnen. Diese Wahlmöglichkeit ist natürlich ein weißes Privileg.
DREI BEISPIELE
Im Dezember 2016 erreichte den Pfarrer einer evangelischen Kirchengemeinde in Nordrhein-Westfalen ein Weihnachtsgruß der katholischen Nachbargemeinde. Die Kirche ist stadtbekannt für ihre Liberalität und Inklusion. Beide Gemeinden hatten lange an der guten Beziehung zueinander gearbeitet. Regelmäßige ökumenische Gottesdienste und eben solche nachbarschaftlichen Grüße waren Zeugnis dessen. Die Grußkarte enthielt eine vom Pfarrer handgeschriebene Adventsgeschichte des Autoren Heinrich Waggerl (1897-1973) mit dem Titel "Warum der schwarze König Melchior so froh wurde". Der Salzburger Starautor Waggerl war ein großer Verehrer Adolf Hitlers, dessen "befreiende Kraft einer wahrhaft großen Menschlichkeit" er rühmte. Er wurde schließlich zum Landesobmann der Reichsschrifttumskammer im NS-Gau Salzburg ernannt.
In der Adventsgeschichte erzählt der Autor, eingebettet in eine Fülle von Rassismen, davon, wie der M* Melchior aus dem Morgenland zum Jesuskind kommt. Auf dem Weg sah man ihn an, "als ob er in der Haut des Teufels steckte" und wo sie ihn sahen, "waren alle Kinder kreischend in den Schoß der Mutter geflüchtet." Beim Jesuskind angekommen, berührt er es und "Als er (…) die Hände wieder löste, sah er das Wunder – sie waren innen weiß geworden! Und seither haben alle Mohren helle Handflächen, geht nur hin und seht es, und grüßt sie brüderlich."
Viel interessanter als die althergebrachte und hochaktuelle Konstruktion Schwarzer Menschen als von Natur aus schlecht, unrein und der Erlösung bedürftig finde ich die Frage nach der Reaktion des Pfarrers, dem diese Geschichte als Weihnachtsgruß zukommt. Er findet sie "unmöglich" und "wundert sich" über den Kollegen, der sonst ja wirklich nett sei. Dann wägt er ab, ob ein Einwand seinerseits nicht die lange gepflegte und nicht unkomplizierte ökumenische Beziehung der beiden Gemeinden stören könnte. Er lässt die Karte noch einige Tage auf seinem Schreibtisch liegen. Er ist sich nicht sicher, was zu tun ist.
"Weil die Opfer von Rassismus sich nicht aussuchen können, wann sie zu Opfern werden, können sich Antirassist*innen auch nicht aussuchen, wann sie solidarisch sein möchten und wann nicht. Nur durch ihre kategorische Dringlichkeit wird Solidarität glaubhaft."
An einem Sonntag steht eine Pfarrerin in der Kirche ihrer Gemeinde. In gewissenhafter Freundlichkeit verabschiedet sie Menschen. Um sie herum werden Grüße ausgerichtet. Kinder werden angezogen und Konfirmanden stellen ihre Handys wieder auf "laut". Ein Paar aus Mann und Frau kommt auf sie zu, zeigt auf einen Mann und fragt: "Was machen Sie eigentlich gegen die Moslems, die jetzt alles übernehmen wollen." Der Mann, auf den sie zeigen, ist ein afrodeutscher Mann. Er wurde wenige Wochen zuvor in das Presbyterium der Kirchengemeinde gewählt.
Viel interessanter als die althergebrachte und hochaktuelle Konstruktion Schwarzer Menschen als von Natur aus bedrohlich und verschlagen finde ich die Reaktion der Pfarrerin auf die Frage des Paares. Sie beschließt, sie zu ignorieren.
Bei einem Kirchengemeindefest wird zum Essen eingeladen. Dicht drängen sich die Gäste im Gemeindesaal. Man wählt zwischen Linsensuppe und Gulasch. Manches Kind gerät aus dem Blick und beginnt das Mittagessen mit dem Nachtisch. Ein Mann und seine Frau haben einen freien Platz entdeckt. Sie wenden sich einer älteren Dame zu, die bereits an dem Tisch sitzt. "Ist hier bei Ihnen noch frei?", fragen sie. Die Dame dreht sich zu ihren Freundinnen und sagt: "Hier sitzt der nicht. Überall Ausländer, das Pack!"
Viel interessanter, als die althergebrachte und hochaktuelle Konstruktion Schwarzer Menschen als minderwertig, finde ich die Reaktion des Pfarrers, der jetzt über die Situation informiert wird. Er hat viel um die Ohren an diesem Tag. Er sagt zu den Betroffenen, die ihn um Unterstützung bitten, seufzend: "Das ist auch Gemeinde!". Er fügt an, die Damen seien "schwierig". Dann muss er weiter. Nach einiger Zeit fasst er sich ein Herz, geht auf die Damen zu und sagt ihnen, dass in dieser Gemeinde "alle willkommen" seien.
EINSAM IN DER GEMEINDE
Keine dieser Pfarrer*innen ist Rassist*in. Das weiß ich, weil ich in allen Beispielen der betroffene Schwarze Mann bin, der Presbyter der Gemeinde. Doch sie sind auch keine Antirassist*innen, weil sie von der Wahl Gebrauch machen, sich mit Rassismen auseinanderzusetzen, oder nicht. Das können, wie gesagt, nur sie, als weiße Menschen. Solidarität in einem antirassistischen Sinne bedeutet, dieses Privileg freiwillig aufzugeben. Weil die Opfer von Rassismus sich nicht aussuchen können, wann sie zu Opfern werden, können sich Antirassist*innen auch nicht aussuchen, wann sie solidarisch sein möchten und wann nicht. Nur durch ihre kategorische Dringlichkeit wird Solidarität glaubhaft.
Ich habe das Presbyterium dieser Kirchengemeinde verlassen. Ich fühlte mich einsam, obwohl man sich in Gesprächen und Schreiben mit mir solidarisch erklärt hat und sehr freundlich war. Es war zu spät. "Die Frage nach dem Guten findet uns immer bereits in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Situation vor: wir leben.", schreibt Dietrich Bonhoeffer (D. Bonhoeffer in "Ethik", Hrsg. E. Bethge, Chr. Kaiserverlag 1956). Für die Gemeinde bestünde jetzt die Möglichkeit, sich mit Rassismus und ihrer Haltung dazu auseinanderzusetzen, damit die Frage nach "dem Guten" in dieser Sache jeden Tag aufs Neue gestellt wird und lebendig bleibt. Ich warte.
Dieser Text ist erschienen im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2020, das Sie hier anschauen können.
Der Autor, Sprecher und Moderator Sami Omar schreibt und arbeitet zu den Themen Migration, Integration, Rassismus und Diskriminierung. Er ist Kampagnenreferent und Mitarbeiter eines Fachdienstes für Integration und Migration bei einem großen deutschen Wohlfahrtsverband. 2018 erschien sein drittes Buch mit dem Titel "Sami und die liebe Heimat".
Kontakt: www.sami-omar.de