"Der deutsche Kolonialismus wird kleingeredet"

Black Lives Matter-Demo im Juni 2020 in Berlin. Foto: Shutterstock/Hernan J. Martin
"Der deutsche Kolonialismus wird kleingeredet"
Jeff Kwasi Klein über Anti-Schwarzen Rassismus, die "Dekolonialisierung des Verstandes", die Black Lives-Matter-Bewegung und die Privilegien weißer Menschen
Jutta Weduwen

Jeff Kwasi Klein ist Leiter des Antidiskriminierungsprojekts EACH ONE von Each One Teach One e. V. (EOTO). Dort koordiniert er Projekte, die die menschenrechtliche Situation von Schwarzen, afro-diasporischen und Menschen afrikanischer Herkunft sichtbar machen, insbesondere durch ein Monitoringprojekt zu Anti-Schwarzen Rassismus in Berlin.

Warum ist es wichtig, Anti-Schwarzen Rassismus als besonderes Phänomen zu betrachten?  
Verschiedene Rassismen haben sich in der Geschichte unterschiedlich entwickelt. Im Versklavtenhandel ging es darum, einen Schwarzen Körper zu besitzen. Kolonisator*innen haben den Blick auf den Schwarzen Körper gerichtet. Auch heute ist Anti- Schwarzer Rassismus sehr stark auf Körperlichkeiten bezogen. Es gibt diese "positiven" Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen, dass sie sportlich sind, gut tanzen können. Und häufig wird ihnen vorgeworfen, dass sie besonders aggressiv seien oder irgendwie schnell sehr »körperlich« würden und deswegen eine Gefahr darstellten. Schwarze sind oft besonderen Behandlungen durch Sicherheitskräfte und Polizei ausgesetzt. Es findet Racial Profiling statt, Schwarze werden immer wieder besonders rausgepickt, härter kontrolliert, brutaler angegangen.

"Man kann den deutschen Nationalsozialismus nur verstehen, wenn man auch den deutschen Kolonialismus einbezieht in die Analyse."

Sie haben 2019 den US-amerikanischen Politiker Jesse Jackson auf einer Reise nach Auschwitz begleitet. Welche Rolle spielte die Beschäftigung mit der NS-Geschichte für Ihre politische Sozialisation?
In meiner eigenen Politisierung ist das ein großes Thema gewesen. Ich wollte verstehen, wie die Gesellschaft Hitler unterstützt und getragen hat. Es war für mich wichtig zu verstehen, wie das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, zu dem geworden ist, was es jetzt ist. Und im weiteren Verlauf meiner Politisierung ging es immer mehr um Kolonialismus und den Versklavtenhandel, mit dem Blick darauf, den deutschen Nationalsozialismus nur verstehen zu können, wenn man auch den deutschen Kolonialismus einbezieht in die Analyse. Ich habe mich mit der Verfolgung Schwarzer Menschen im Nationalsozialismus beschäftigt und auch mit Überlebenden. Einer der letzten Schwarzen Zeitzeugen, Theodor Wonja Michael, ist 2019 gestorben.

Wie erleben Sie die derzeitige Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus?
Der deutsche Kolonialismus wird kleingeredet. Selbst wenn Deutschland später eingestiegen ist als England oder Frankreich, war es trotzdem so, dass Deutschland an einem Punkt die drittgrößte Kolonialmacht der Welt war und dementsprechend auch unglaublich brutal und unglaublich menschenverachtend in den Kolonien gehandelt hat. Man kann den Nationalsozialismus nicht verstehen, wenn man nicht auch den Kolonialismus mit einbezieht in die Analyse. Es gab eine Glorifizierung der deutschen Kolonialgeschichte und den Wunsch, wieder zu alter Stärke zu erwachen. Die ersten Konzentrationslager entstanden auf dem Gebiet der Kolonien. Eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Herero und Nama hat aber bis heute nicht stattgefunden. Es fehlen eine angemessene Entschuldigung und Entschädigung.

"Weiße Menschen müssen von dieser Illusion befreit werden, dass sie in irgendeiner Form bessergestellt sind als andere Menschen."

Sie fordern eine Dekolonisierung des Verstandes. Was meinen Sie damit?
Die Dekolonisierung des Verstandes ist ein Konzept, das ich eher aus Schwarzen, widerständigen Netzwerken kenne. Es war ein koloniales Projekt, den Kolonisierten einzureden, dass sie keine Geschichte und Kultur haben, dass sie unterentwickelt sind, um den Vorherrschaftsanspruch weißer Menschen zu legitimieren. Dem Verstand muss klargemacht werden, dass diese Rassifizierung einer weißen Phantasie entspringt. Weiße Menschen müssen von dieser Illusion befreit werden, dass sie in irgendeiner Form bessergestellt sind als andere Menschen.

Jeff Kwesi Klein
Jeff Kwesi Klein. Foto: privat

Die Bundesregierung will den Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz streichen. Wie ist Ihre Meinung dazu?  
Meine Meinung hat sich dazu gewandelt. Ich habe gute juristische Argumente dafür gehört, dass der Begriff im Grundgesetz verbleibt im Sinne des Diskriminierungsschutzes. In Deutschland gibt es, wie gesagt, ein noch anfängliches Verständnis davon, was Rassismus überhaupt ist. Und natürlich gibt es in Deutschland auch aufgrund der Geschichte einen Reflex, alles, was in Richtung Rasse und Rassismus geht, von sich abzustoßen. Aber diese Position verkennt, dass Rassismus nicht nur bei Nazis stattfindet, sondern eine Struktur hat. Es findet in der Gesellschaft eine Rassifizierung statt – Menschen werden in Rassen eingeteilt, auch wenn die meisten sagen würden, dass biologische Rassen nicht existieren. Ich hätte mir gewünscht, dass es dazu einen Diskurs gibt in Deutschland. Ja, es gibt keine biologischen Rassen, aber wir müssen verstehen, dass Menschen rassifiziert werden und deswegen auch die Kategorie Rasse anders verstanden und interpretiert werden muss. 

Rassismus funktioniert in Gesellschaften auch als Ordnungsprinzip, das Menschen mehr oder weniger Privilegien gibt. Menschen verzichten ungern auf Privilegien, auch wenn sie nicht rassistisch sein wollen.  
Ich glaube, wenn Menschen hören, dass sie Privilegien haben, fühlen sie sich schnell falsch verstanden. "Jetzt wird mir abgesprochen, dass es mir ja auch nicht immer gut geht." Darum geht es nicht bei dem Wort White Privilege (weiße Privilegien). Es geht darum, Privilegien innerhalb eines rassistischen Systems zu verstehen. Als weiße Person hat man zum Beispiel das Privileg, dass man sich zum einen nicht mit Rassismus auseinandersetzen muss, wenn man nicht möchte. Zum anderen hat man nicht automatisch Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, in der Schule. Wir Schwarzen Menschen sind gezwungen, uns mit Rassismus auseinanderzusetzen, weil er allgegenwärtig in unserem Leben ist.

"Rassistische Systeme wurden errichtet, um weiße Menschen zu bevorteilen, und es müssen auch weiße Menschen sein, die diese Systeme mit abbauen."

Was ist also zu tun?
Wenn es dann darum geht, Privilegien abzugeben, geht es im ersten Schritt darum, das Privileg abzubauen, dass man sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen muss. Dass man zum Beispiel in seinem direkten Umfeld nicht weghört, wenn rassistische Witze erzählt werden, sondern die Leute konfrontiert, dass man sich informiert auch über die eigene Positionierung als weißer Mensch in einem rassistischen System. Rassistische Systeme wurden errichtet, um weiße Menschen zu bevorteilen, und es müssen auch weiße Menschen sein, die diese Systeme mit abbauen.

Sie sind Projektleiter bei Each One Teach One. Was machen Sie in dieser Funktion?
Each One Teach One (EOTO) ist ein communitybasiertes Empowerment-Projekt, das Schwarze Menschen stärken möchte. Wir machen Jugendarbeit, haben Bildungs- und Kulturprojekte und eine Bibliothek. Ich bin Projektleiter für die Antidiskriminierungsarbeit. Wir beraten Menschen afrikanischer Herkunft, die sich bei Diskriminierungserfahrungen an uns wenden können. Wir überlegen dann gemeinsam, ob rechtliche Wege gegangen werden können, es eine psychologische Beratung braucht oder wir an andere Stellen verweisen. In unserer Monitoring-Stelle dokumentieren wir Fälle von Anti-Schwarzem Rassismus, die dann in einem jährlichen Monitoring-Bericht zusammengefasst werden.

Welche Begriffe benutzen Sie, wenn Sie von Menschen sprechen, die afrikanische Wurzeln haben beziehungsweise von Rassismus betroffen sind?
Schwarz ist eine Selbstbezeichnung verschiedener afrikanischer oder Schwarzer Communities, diese Bezeichnung bezieht sich aber nicht auf die Hautfarbe. Es geht nicht um den Melanin-Anteil der Haut, sondern es geht um eine soziopolitische Positionierung innerhalb der Gesellschaft. Schwarz und weiß sind Konstrukte, die im Zuge der Rassentheorien und des Kolonialismus etabliert worden sind. Schwarze Communities haben sich in diskursiven Prozessen auch dafür entschieden, Schwarz als eine Eigenbezeichnung anzunehmen. Um auszudrücken, dass es dabei eben nicht um die Farbe Schwarz geht, wird das S großgeschrieben.

"Auch wenn es keine biologischen Menschenrassen gibt, ist das gesellschaftliche Merkmal Rasse im Rassismus wirkmächtig."

Wie sind die Selbstbezeichnungen BPoc und BIPoc zu verstehen?
Es sind Sammelbegriffe für Menschen, die Rassismus-Erfahrungen machen. Das bedeutet Black Indigenous and People of Color, das heißt Schwarze, Indigene – also Urbevölkerungen –, und People of Color, also Menschen, die auch in diesen soziopolitischen Kategorisierungen rassifiziert worden sind. Es geht entscheidend darum, das Ganze als ein soziales Konstrukt zu verstehen. Auch wenn es keine biologischen Menschenrassen gibt, ist das gesellschaftliche Merkmal Rasse im Rassismus wirkmächtig, weil es verschiedene Menschengruppen unterteilt und hierarchisiert. Es gibt auch Menschen afrikanischer Herkunft, die für sich den Begriff Schwarz nicht passend finden und dann zum Beispiel afro-diasporisch verwenden. Verschiedene Begriffe tragen der Diversität und Pluralität der Schwarzen Communities Rechnung.

Ihr Verein hat den Afrozensus mit initiiert. Worum geht es Ihnen dabei?
Der Afrozensus ist die erste großangelegte Umfrage unter Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland, die die Lebensrealitäten, aber auch die Diskriminierungs-Erfahrungen von Schwarzen Menschen erfragt. Menschen konnten sich bis August 2020 daran beteiligen. Wir haben um die 4.000 Rückmeldungen bekommen. Wir wollten wissen, wie die Menschen leben, wo sie sich engagieren, ob und wo sie Diskriminierungen erfahren und wie divers ihre Lebensrealitäten sind.

"In Deutschland gibt es nur ein sehr rudimentäres Verständnis davon, was Rassismus ist und wie sich Rassismus auswirkt."

Kann die Erhebung die Sensibilität für Anti-Schwarzen Rassismus stärken?
Die Erfahrung, zum Beispiel aus den USA und Großbritannien, hat gezeigt, dass Daten über Rassismus nicht direkt dazu führen, dass dieser abgebaut wird. Zumindest wird er dann aber weniger leicht zu leugnen sein. Wir hinken in Deutschland hinterher: Es gibt ein sehr rudimentäres Verständnis davon, was Rassismus ist und wie sich Rassismus auswirkt. Das wurde bei der Black-Lives-Matter-Bewegung deutlich, wo Schwarze Aktivist*innen versucht haben, einen Link zu machen zwischen dem, was in den USA passiert, und dem, was hier in Deutschland vor sich geht, dass Polizeigewalt hier auch stattfindet, dass es auch Tote in Gewahrsam in Deutschland gibt. Einen draufgesetzt hat dann Horst Seehofer, der die von vielen Seiten geforderte Studie zu Rassismus innerhalb der Polizei ablehnt. Wir erleben auf politischer und institutioneller Ebene weiterhin wenig Bereitschaft, sich mit strukturellem Rassismus auseinanderzusetzen.

Die Black-Lives-Matter-Bewegung war auch in Deutschland sichtbar. Was war und ist Gutes geschehen durch die Debatte? Was finden Sie schwierig?
Die Ermordung von George Floyd führte zu einer unglaublich großen Solidaritätswelle. Von weißen Freund*innen habe ich gehört, dass erstmalig in ihren Familien über Rassismus diskutiert wurde. Gleichzeitig war es eine Art Hype und es sind viele Leute auf diesen Hype-Zug mit draufgesprungen. Das Problem ist aber, dass Rassismus mit dem jetzt verebbenden Hype nicht zu Ende ist. Die Lebensrealitäten von Menschen, die Rassismus erfahren haben, haben sich in der Form nicht geändert.

Bleibt also alles beim Alten?
Nicht unbedingt. Ich glaube, dass es Aktivist*innen gelungen ist, den Diskurs ein wenig zu verändern, weg von Rassismus als individueller Einstellung, hin zu Rassismus als Struktur. Todesfälle von Schwarzen Menschen in Polizeigewahrsam sind auch in Deutschland weiterhin nicht aufgeklärt. Aktivist*innen haben jetzt wieder auf diese Fälle hingewiesen und fordern Aufklärung. Auch das wurde durch die Debatte ausgelöst.  

Dieser Text erschien zuerst im Magazin „zeichen“, Ausgabe 3/2020, www.asf-ev.de/infothek/themen/

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Jutta Weduwen
Foto: privat

Jutta Weduwen ist Soziologin und seit 2012 Geschäftsführerin von Aktionszeichen Friedensdienste e. V. Sie ist unter anderem Mitglied im Ökumenischen Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche, im Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus (BAG K+R) und im Vorstand der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden.

Kontakt: weduwen@asf-ev.de