Es ist 2020, ein Jahr runder Geburtstage. Beethoven-Jahr. Gäbe es so etwas wie einen Soundtrack zu der Idee eines Europas der Menschenrechte, es wäre Beethovens "Ode an die Freude". Zumindest wird dieses Musikstück ganz oft gespielt, wenn es darum geht, Europa als einen Kontinent der Menschenrechte, der Solidarität, des Friedens, der Vielfalt und Offenheit zu feiern.
So ertönte "Freude schöner Götterfunken" am 22. März 2020 von den offenen Fenstern und Balkonen deutschlandweit. Musiker*innen hatten sich als Zeichen der Solidarität in Zeiten der Covid-19-Pandemie zu einem gemeinsamen Ständchen verabredet. 2020 wird, so viel steht fest, auch das Corona-Jahr gewesen sein, geprägt von einem Lockdown, der den Alltag der Menschen in einen Ausnahmezustand versetzte.
Vermutlich wird die "Ode an die Freude" auch am 4. November irgendwo in Europa erklingen. An diesem Tag feiert die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nämlich ihren 70. Geburtstag. Es wird Festtagsreden geben und Beethovens Vertonung von "Alle Menschen werden Brüder" als Geburtstagsständchen. Europa liebt Festakte, große Gesten und den Glauben an den großen europäischen Gedanken.
Die EMRK verkörpert die Idee eines Europa der Menschenrechte
Wenn es so etwas wie ein Schriftstück gibt, das die Idee eines Europa der Menschenrechte verkörpert, dann ist das die EMRK. Am 4. November 1950 wurde sie in Rom von Mitgliedern des Europarats unterzeichnet. Drei Jahre später trat die EMRK in Kraft, wurde über Jahrzehnte durch Zusatzprotokolle erweitert. 1950, im Jahr der Unterzeichnung, lagen die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus und die ungeheuerlichen Verbrechen der Shoah, der Massenvernichtung von Millionen von Menschenleben, gerade mal fünf Jahre zurück. Die Europäer*innen mussten sicherstellen, dass Krieg, Folter, Gewalt, Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und Verletzung von Menschenrechten nie wieder passieren.
Das Besondere: Die EMRK ist kein Lippenbekenntnis, sondern ein Garant für individuelle Menschenrechte – Betroffene, die eben diese ihre Rechte verletzt sehen, können sie gegenüber allen europäischen Staaten, die die Konvention unterzeichnet haben, einklagen. Dafür wurde 1959 eigens ein Gericht ins Leben gerufen: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (kurz: EGMR) in Straßburg. Seine Urteile sind nicht als Empfehlungen zu verstehen, sondern zwingend umzusetzen. Wenn ein europäischer Staat laut EGMR gegen die Konvention verstößt, hat er das unter Strafe abzustellen.
Die Realität an Europas Außengrenzen: Not, Verzweiflung und Entrechtung
Wir haben also eine Menschenrechtskonvention, wir haben europäische Staaten, die sie unterzeichnet haben (mit dem Versprechen, sich daran halten zu wollen!), wir haben einen Gerichtshof, der über alles wacht, und wir haben Beethovens "Ode an die Freude", die man bei paneuropäischen Festakten spielen kann. Wer das liest, könnte auf den Gedanken kommen, dass wir im Jahre 70 nach der Geburt der EMRK den Traum eines Europas der Menschenrechte leben. Dass alles prima ist. Dass wir uns als Europäer*innen zurücklehnen und selbstgewiss den runden Geburtstag der EMRK feiern können.
Das können wir mitnichten. Was die EMRK wert ist und ob die große Idee eines Europas der Menschenrechte Gültigkeit hat, lässt sich im Jahr 2020 jeden Tag an den europäischen Außengrenzen messen. Dort herrscht eine Realität für geflüchtete Menschen, die sich mit Not, Verzweiflung und Entrechtung umschreiben lässt.
Permanenter Ausnahmezustand in den griechischen Elendslagern
Während wir diese Zeilen schreiben, halten sich laut UNHCR rund 40.000 Menschen auf den griechischen Inseln auf – die meisten in völlig überfüllten "Hotspots". Elendslager, in die die europäische Flüchtlingspolitik Flüchtlinge seit Jahren verbannt, um zu signalisieren, was allen Geflüchteten blüht, wenn sie sich über die Ägäis auf den Weg nach Europa machen.
Es ist der permanente Ausnahmezustand unter freiem Himmel für Frauen, Männer, Kinder, Familien, Alte, Kranke, Traumatisierte. Zwischen Müllbergen und Schlammpfützen, gepfercht in Zelte, unter Plastik-Planen, in selbstgezimmerten Behausungen aus Pappe und allem, was sich finden lässt. Die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse – Essen, Hygiene, Dach über dem Kopf – nicht gedeckt. Der Zugang zum Asylrecht? Fehlanzeige. Effektiver Zugang zu einem Rechtsbeistand, um sich gegen diese Bedingungen zu wehren? In diesem Elend kaum möglich.
Lockdown der Menschenrechte – seit Jahren
In den Insellagern in der Ägäis herrscht seit Jahren praktisch ein Lockdown der Menschenrechte. Im März 2020 kam der Corona-Lockdown hinzu. Europa igelte sich ein und überließ Schutzsuchende endgültig sich selbst. Als ob die Not Tausender Menschen verschwinden würde, wenn man lange genug nicht hinsieht. Im April holte die Bundesregierung nach monatelangem Ringen 47 (!) unbegleitete Kinder und Jugendliche nach Deutschland. Doch es stehen so viele Menschenleben mehr auf dem Spiel und die Zeit drängt. Die Lager drohen, zur Todesfalle zu werden.
Allein im "Hotspot" Moria auf Lesbos gab es Ende Januar 2020 gerade mal drei Ärzte, acht Krankenschwestern und sieben Dolmetscher*innen für knapp 20.000 Menschen. Tausende stehen stundenlang auf engstem Raum für Essen an. Teilweise teilen sich bis zu 500 Personen eine Dusche. Selbst einfache Maßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen oder Abstand halten können nicht eingehalten werden. Ein seriöser Notfallplan gegen die Ausbreitung des Covid-19-Virus ist nicht in Sicht. Kaum auszumalen, was ein Ausbruch hier bedeuten würde.
Beethovens "Ode an die Freude" – wie würde sie sich für Geflüchtete anhören, die in Freiluftgefängnissen auf europäischem Boden ausharren müssen? "Die Situation hier ist unmenschlich. Es ist eine Schande für Europa!", sagt ein Geflüchteter aus Somalia, der in einem Zelt auf Samos lebt und wegen des EU-Türkei-Deals die Insel seit drei Jahren nicht verlassen darf.
"Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden", besagt Artikel 3 der EMRK und meint damit ausnahmslos alle Menschen im Geltungsbereich der Menschenrechtskonvention. Auch die Geflüchteten auf den griechischen Inseln.
Vor kurzem hat der EGMR angeordnet, dass acht Flüchtlinge den "Hotspot" Moria verlassen dürfen und im Einklang mit Artikel 3 menschenwürdig untergebracht werden müssen. Die Betroffenen hatten mit Hilfe der Anwält*innen von PRO ASYL/Refugee Support Aegean gegen die desolate Unterbringungslage geklagt. Ein wichtiges Zeichen aus Straßburg, dass die in der EMRK verankerten Menschenrechte für alle und zu allen Zeiten, auch während der Corona-Krise gelten. Bitter ist, dass Schutzsuchende unter den widrigsten Umständen und mit enormem Aufwand die Rechte, auf die sie angewiesen sind und die ihnen qua Konvention zustehen, einklagen müssen.
Die EMRK wird gebraucht – mehr denn je. Wir wünschen ihr zum Siebzigsten, dass sie ein fittes, lebendiges Instrument bleibt, das sich immer neuen Realitäten anpassen kann und dass Menschen die in der EMRK garantierten Rechte real und effektiv wahrnehmen können. Das wäre mal ein echter Anlass für eine "Ode an die Freude".
Anđelka Križanović ist Pressereferentin bei PRO ASYL.
Kontakt: presse@proasyl.de