Wir leben in einer Zeit der Umbrüche. Eine Pandemie und ein Krieg haben uns ereilt. Zwischendrin lag eine zukunftsverändernde Bundestagswahl. Diese Zäsuren betreffen uns alle. Wir erleben die Geschichte gemeinsam. Wir durchlebten dieselbe Pandemie, gemeinsam fiel uns zu Hause die Decke auf den Kopf, trauerten wir um Angehörige und Bekannte. Wir fieberten auf den Ausgang der Wahl hin und fühlten mit den Betroffenen des europäischen Kriegs.
Wir alle können davon erzählen, wie wir diese Zäsuren erleben. Wie wir die Masken hinter den Ohren festklemmten, unseren Stimmzettel in die Urne warfen und den Fernseher nicht ausschalten konnten, weil die Panzer immer schneller vorrückten. Die Geschichte betrifft uns als Menschen, Europäer:innen gemeinsam. Und doch werden unsere Erzählungen unterschiedlich klingen.
Wer arm ist, spricht davon wie die teuren Masken zum Verzicht auf Lebensfreude gezwungen haben. Wer bereits vorerkrankt ist, für den ist das Ende der Pandemie noch in weiter Ferne. Wer keinen deutschen Pass hat, durfte nicht wählen. Durch die Krisen der vergangenen Jahre gingen wir gemeinsam, aber sie machten uns auch verschieden. Das Virus wütete in Stadtvierteln mit hohem Anteil von Migrant:innen noch ungehinderter. Und Kinder mit Lernproblemen und weniger Gelegenheiten für Unterricht daheim, fielen noch weiter zurück.
MARGINALISIERTE STIMMEN GEHEN UNTER
Unterschiedlich ist aber nicht nur, was wir erzählen, sondern auch, wer gehört wird. Insbesondere, wenn Nachrichten über uns hereinbrechen, zeigt sich, wie schnell marginalisierte Stimmen untergehen.
Vor der Bundestagswahl 2021 verhallten viele Stimmen ungehört. In den Talkshows saßen während des Wahlkampfes mehr Männer mit Namen Wolfgang als People of Color. In den Abendnachrichten sprachen keine migrantisch wahrgenommenen Expert*innen. Menschen mit sichtbarer Behinderung machten weniger als ein Prozent der Gezeigten aus. Und nicht einmal ein halbes Prozent war sichtbar religiös, trug also beispielsweise ein Kopftuch oder einen Turban. Ganz egal, ob es um Corona oder die Rentenpolitik ging. Und die Angehörigen der neun Menschen aus Einwandererfamilien, die in Hanau getötet wurden, kämpften gegen das Vergessenwerden im Nachrichtenstrudel der Corona-Krise.
Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sagte einmal, der einfachste Weg ein Volk zu enteignen bestünde darin, seine Geschichte zu erzählen und mit "zweitens" zu beginnen. Migrant:innen, People of Color, Menschen mit Behinderung und queere Menschen werden in Deutschland noch viel zu oft unter "Zweitens" verhandelt. Wie sie die Geschichte erleben, ist nachgeordnet. Was sie beschäftigt, wird kein Brennpunkt im Fernsehen. In deutschen Medien, der gemeinsamen öffentlichen Debatte werden sie vergessen oder viel zu spät befragt. Auch das wird in Zeiten der Krise deutlich.
EIN GEMEINSAMES NARRATIV FINDEN
Zeit also für Öffnung. Es gilt, gerade jetzt, vielfältigen Stimmen Gehör zu verschaffen. Sie nicht an einem Extratisch, in einer Sondersendung und nur zum Thema ihrer Identität erzählen zu lassen, sondern immer und überall. Nicht als Ergänzung, sondern als Teil eines gemeinsamen Narrativs. Und was bietet sich besser an, um diese gemeinsame Erzählung zu erproben, als eine Interkulturelle Woche? Um radikal zu versuchen, den Tisch möglichst vielfältig zu besetzen.
Denn zu tun ist immer etwas. So können wir uns unentwegt hinterfragen. Weiß ich genug darüber, wie andere denken? Könnte meine Tischgesellschaft, meine Diskussionsrunde, mein Gremium noch diverser sein? Die Antwort ist in beinahe jedem Fall: Ja. Ist meine Veranstaltung offen und zugänglich genug? Vermutlich: Nein.
Fühlen sich alle als Teil einer gemeinsamen Erzählung und nicht nur als zweitens, als Vertreterinnen einer Nebenerzählung, einer Minderheit? Und immer wieder müssen wir uns irritieren, stehenbleiben, und fragen: Wen vergesse ich? Wir sprechen heute von Intersektionalität, wenn es um radikale Diversität geht. Und, wenn wir ehrlich sind: Intersektionalität macht unsere Debatten spannender, kontroverser – und vor allem relevanter.
Es heißt manchmal, in derlei Kategorien zu denken, sei Identitätspolitik. Es zeichne künstliche Gräben in unsere Gesellschaft, in Zeiten, in denen wir doch zusammenstehen wollen. Aber solange eine plurale Gesellschaft noch nicht selbstverständlich ist, braucht sie dieses Vokabular. Solange nicht jede Sendung, jeder Medienbeitrag, jede öffentliche Debatte den Stimmen marginalisierter Gruppen Raum gibt, müssen wir diese Stimmen suchen.
DIE OFFENE GESELLSCHAFT HAT FEINDE
Die offene Gesellschaft ist ein schönes Ideal. Und trotzdem hat sie, das dürfen wir nicht vergessen, Feinde. Auch das wurde in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich. Mit der Krise kam der Hass. Politische Beobachter:innen warnten früh vor unheiligen Allianzen aus rechten Gruppierungen und Covid-Leugner:innen. Um 41 Prozent nahmen die Verfahren wegen Hasskriminalität im Internet während der Pandemie zu. Betroffen waren Ärzt:innen, Politiker:innen und Journalist:innen. Aber auch hier trifft es diejenigen häufiger und härter, deren Stimmen zu selten gehört werden: Frauen, People of Color, Geflüchtete. Nach dem Ausbruch des Virus in China berichteten asiatisch gelesene Menschen von Anfeindungen im Alltag, von Beleidigungen und
körperlichen Übergriffen.
Zu einer offenen Gesellschaft, in der vielfältige Stimmen Raum haben, gehört deshalb auch, dass diese geschützt werden. Dass diejenigen, die sich trauen, das Wort zu ergreifen, nicht um die eigene Sicherheit fürchten müssen. Dass Bedrohungen durch rechte Gruppen konsequent verfolgt werden. Dass sich Journalist:innen und Aktivist:innen, leise Stimmen und laute, gemäßigte und engagierte, konservative und linke, frei äußern können.
Dass wir beten können, ohne einen Anschlag auf unsere Synagoge fürchten zu müssen, wie in Halle und Hagen. Dass wir an einer Bushaltestelle arabisch und russisch sprechen können, ohne Anfeindungen zu fürchten. Dass wir unsere Meinungen auf Tiktok und in Wochenzeitungen äußern können, ohne um-ziehen und uns verstecken zu müssen, weil die Hassenden im Netz nicht gebremst werden.
DIE BUNDESREGIERUNG WIRD DIE VIELFÄLTIGE GESELLSCHAFT VERTEIDIGEN MÜSSEN
Noch gibt es viel zu tun. Insbesondere die neue Bundesregierung wird die vielfältige Gesellschaft verteidigen müssen. Mit Gesetzen, die People of Color schützen, die neuen Migrant:innen erlauben, ganz und gar an der deutschen Gesellschaft teilzuhaben und die rechte Netzwerke nicht bagatellisieren, sondern aushebeln.
Wenn sie gelingt, die plurale Gesellschaft, ist sie ein Gewinn für uns alle. Auf den Bestsellerlisten sammeln sich Bücher, in denen darüber nachgedacht wird, wie wir wieder zusammenkommen können. Wie wir in der Differenz die Schönheit sehen und die Gräben unserer Gesellschaft mit radikalen Kompromissen überqueren können. Sie bieten Anleitungen, um zu einem gemeinsamen gesellschaftlichen Narrativ zu kommen.
Wenn wir also in diesem Jahr miteinander sprechen, sollten wir unsere Gesprächsrunden so offen wie möglich besetzen. Und wir könnten, im nächsten Schritt, darauf achten, welche Geschichten wir dort erzählen. Wie wir schreiben und formulieren, sagt oft viel mehr über unser eigenes Weltbild aus als über die beschriebenen Personen.
Um es mit Chimamanda Ngozi Adichie zu sagen: "Wenn man ein Volk als eins zeigt, eindimensional, als nur eine Sache, immer und immer wieder, schafft man eine einzige Geschichte, wird es dazu." Das bedeutet auch: Wenn wir vielfältige Geschichten erzählen, immer und immer wieder, dann schaffen wir eine plurale Gesellschaft.
Im Jahr 2021 trafen sich die Schriftstellerin Adichie und Angela Merkel, beinahe nicht mehr Kanzlerin, auf einer Bühne in München. Zwischen ihnen zwei Tische, sprachen sie in unterschiedlichen Sprachen. Beide haben Geschichten, die oft unter "zweitens" verhandelt werden. Merkel als Ostdeutsche, Adichie als Schwarze Frau und Immigrantin. Und doch dauerte es beinahe die gesamten anderthalb Stunden, bis sie sich annäherten, gemeinsamen Common Ground fanden, denn ihre Geschichten sind auch sehr verschieden.
Von Afrika verstehe sie eigentlich nicht so viel, gab Merkel dann irgendwann zu. Aber wenn sie Adichie mal besuchen dürfte, könnte sich das ändern. "It's done!", antwortete Adichie. So viel Macht kann der offenen Begegnung inne sein.
Dieser Text erschien im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2022. Zum kompletten Heft
Thembi Wolf lebt in Berlin und ist Teil des Journalist*innenkollektivs Collectext. Als Textchefin arbeitet sie für das Onlinemagazin krautreporter.
Kontakt: thembiwolf (at) posteo.de