Interkulturelle Woche im Zeitenwende-Grenzregime

Prof. Dr. Uwe Becker
Interkulturelle Woche im Zeitenwende-Grenzregime
Prof. Uwe Becker

Nach dem Beginn des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine Ende Februar 2022 hatte Europa mit ungewohnt einmütiger Geschlossenheit seine “Tore“ weit geöffnet. Mehr als eine Million ukrainische Staatsbürger*innen, überwiegend Frauen und Kinder, erhielten, verbunden mit großen Anstrengungen der Kommunen, Erstversorgung, Beratung und Wohnraum, nicht wenige kamen in privaten Unterkünften unter. Eine mit dem Frühherbst 2015 vergleichbare Solidarität der Zivilgesellschaft begleitete die Neuankommenden zum Beispiel bei Behördengängen. Viele kümmerten sich um Dolmetscher*innen, Sprachunterricht, medizinische Betreuung, organisierten Netzwerke sowie Kita- und Schulplätze für die Kinder und Jugendlichen. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union kam die sogenannte "Massenzustromrichtlinie“, die EU-Richtlinie 2001/55, zur Anwendung. Sie diente der Gewährleistung eines “vorübergehenden Schutzes“ und hatte in Deutschland die unmittelbare Anwendung von §24 des Aufenthaltsgesetzes zur Folge, was für die ukrainischen Staatsbürger*innen, und nur für diese, nicht aber für Drittstaatenangehörige, bedeutete, dass sie eine Aufenthaltserlaubnis und innerhalb der Schengen-Staaten Visumsfreiheit erhalten können. Die Geflüchteten waren somit davon entbunden, einen Asylantrag zu stellen und wurden – nach erfolgter Registrierung und der Bestätigung gemäß §24 des Aufenthaltsgesetzes zum berechtigten Personenkreis zu gehören – nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unterstützt. Im Rahmen der Bund-Länder-Verhandlungen einigte man sich Anfang April zu Gunsten der Bundesländer. Demnach kam den Geflüchteten ab dem 1. Juni 2022 die durch den Bund steuerfinanzierte Grundsicherung nach dem SGB II zu, also nicht der kommunal finanzierte und zudem niedrigere Grundleistungsregelsatz nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Verbunden damit ist der Zugang zu Dienstleistungen der Jobcenter wie auch ein Schutz im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Für geflüchtete Kinder und Jugendliche greift zudem die in den jeweiligen Bundesländern geregelte Schulpflicht.

Diese erstaunlich zügig umgesetzten und europäisch konsentierten Maßnahmen könnten eine Blaupause für eine vorbildliche und zudem effektive Flüchtlings- und Integrationspolitik abgeben, die auch für die weitere Aufnahme Geflüchteter eine Perspektive bietet. Aber ganz im Gegenteil gibt es eine Art flüchtlingspolitische Parallelwelt. Während sich Europa bezüglich geflüchteter ukrainischer Staatsbürger*innen in solidarischer Einvernehmlichkeit als Hort der Menschenrechte geriert, treibt die Debatte über systematische Abschottung gegenüber anderen Geflüchteten immer weitere Blüten der Abgrenzungsfantasien. Unter dem Kürzel “GEAS“, “Gemeinsames Europäisches Asylsystem“, wird gegenwärtig die Bildung von Asylzentren an den europäischen Außengrenzen geplant. Selbst Kinder werden von dieser haftähnlichen Kasernierung nicht verschont bleiben, was gegen alle Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention verstößt. Die Innenminister*innen der Länder haben sich bereits geeinigt, das Europäische Parlament und der Rat der EU müssen noch zustimmen, was nicht unwahrscheinlich ist. Vorgesehen ist, dass für Geflüchtete aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent (z.B. aus Tunesien, Albanien oder Indien) die Bearbeitung ihrer Asylanträge binnen 12 Wochen abgeschlossen sein soll. Allerdings gilt selbst das nicht für Geflüchtete aus “sicheren Drittstatten“, denn diesen soll im Rahmen der sogenannten Zulässigkeitsprüfung nicht einmal das Recht auf einen Asylantrag zugestanden werden, für sie greift also die Möglichkeit der direkten Abschiebung. Die EU ist bemüht, die Liste dieser Staaten deutlich zu erweitern.

Diejenigen, deren Asylantrag negativ beschieden wird, sollen in Drittstaaten, etwa nach Tunesien abgeschoben werden, auch wenn dies nicht ihre Herkunftsländer sind. Damit umgeht man den oft wenig aussichtsreichen Weg, die Betroffenen auf der Basis eines Rücknahmeabkommens in ihre Herkunftsländer abzuschieben, denn derartige Abkommen kommen seit Jahren nicht zustande. Dass die Wahrung der Menschenrechte bei der Auswahl dieser außereuropäischen Länder eine untergeordnete Rolle spielt, lässt sich exemplarisch am Beispiel Tunesiens aufzeigen: Homosexualität steht unter Strafe, politische Gegner*innen werden reihenweise inhaftiert und Menschen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara sind massiven rassistischen Anfeindungen ausgesetzt, ohne dass der Staat adäquate Schutzmaßnahmen ergreift. Diese fragilen Menschrechtszustände interessieren offensichtlich die Konstrukteur*innen des “GEAS“ wenig, Hauptsache Europa kann sich durch finanzielle Zuwendungen an Tunesien und andere Länder von Geflüchteten freikaufen. Unabhängig davon, ob die Beschlüsse Rat und Parlament der EU passieren, stellt sich die Frage nach den tiefergehenden Gründen für diesen flüchtlingspolitischen Diskurs.

Unserer Familie und die anderen

Erste Hinweise dazu finden sich bereits in der politischen und medialen Kommentierung der Kriegsereignisse. Im Kontext seines “Zeitenwende“-Diktums erläutert Bundeskanzler Olaf Scholz die besondere Verbundenheit Europas mit den kämpfenden Ukrainer*innen, denn diese, so Scholz, würden nicht nur “ihre Heimat“ verteidigen, sondern sie stünden auch im Kampf für “Freiheit und ihre Demokratie“ und damit für “Werte, die wir mit ihnen teilen“. Ähnlich im Duktus bemüht die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, das Familienbild: “Es besteht ja kein Zweifel, dass diese tapferen Menschen in der Ukraine und der außergewöhnliche Präsident Selenskyj zu unserer europäischen Familie gehören. Sie verteidigen unsere Werte. Sie sind bereit zu sterben für unsere Werte.“ Diese Konstruktion familiärer Zugehörigkeit bezieht konsequenterweise auch alle auf der Flucht befindlichen ukrainischen Staatsbürger*innen ein, ihre Aufnahme gilt als “unser“ Beitrag zum Krieg gegen Putin. Die diesbezügliche Flüchtlingspolitik firmiert demnach als kriegsparteiischer Akt der Solidarität unter Familienmitgliedern, die in Wertegemeinschaft verbunden sind. Zugleich aber generiert jene vielfach beschworene Zugehörigkeit auch Dimensionen der Abgrenzung und Abwertung gegenüber anderen, denen der Status der Familienmitgliedschaft deutlich bestritten wird. Es fehlte in Reaktion auf den Krieg nicht an diesbezüglich fulminanten, ethnorassistischen Stimmen, die deutlich die Unterschiedlichkeit der Fluchtsituation dieses Krieges gegenüber dem “Sommer der Migration“ hervorhoben. So vermeldet die “Neue Zürcher Zeitung“: „‚Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge“‘ und nicht, wie die “FAZ argumentiert“, nur “Migranten“, wie die “meisten Flüchtlinge, die damals über die Türkei in die EU kamen“. Ein Gast bei TV-Stern meint zu wissen, warum “‚die Willkommenskultur bei uns in Deutschland, aber auch in Polen und Ungarn, eine ganz andere‘“ sei “‚als bei früheren Flüchtlingskrisen‘“: Die Ukraine sei eine “‚Nation, ein Land, das uns beeindruckt in diesen Tagen, was fleißig ist, was wissbegierig ist, was neugierig ist, das unsere Werte teilt‘“. Bei BBC erklärt ein „ukrainischer Ex-Staatsbediensteter, […] dass er besonders emotional sei, weil die Opfer ‚blond und blauäugig‘ seien“. Der bulgarische Premierminister Kiril Petkow bringt unverblümt seine Erkenntnis öffentlich zur Sprache: “‚Diese sind Europäer. Sie sind intelligent […]. Dies sind keine Flüchtlinge, wie wir sie in den Wellen zuvor gesehen haben, […], die Terroristen sein könnten‘“. Auch wenn hier und da gegen derartige Äußerungen Kritik geübt wurde, so überlebt doch in ihnen das seit den Silvesterereignissen 2015 an der Kölner Domplatte etablierte, diffuse Narrativ vom “arabischen Mann“, das inzwischen eine prominente Variation in der Figur des “illegalen Migranten“ erfährt. Diesen gelte es abzuwehren, damit wir, wie Bundesinnenministerin Nancy Faser meinte, “weiter den Menschen helfen können, die dringend unsere Unterstützung brauchen“.

Diese pauschal diskreditierende Unterscheidung zwischen, denen, die unsere Hilfe brauchen, gemeint sind ukrainische Staatsbürger*innen, und denen, die sich illegal in “unser Land“ begeben, ist ein Mosaikstein des Gesamtbildes einer zunehmend auf radikale Abschottung setzenden europäischen Flüchtlingspolitik. Dass “legale“ Wege auf der Grundlage von Visa und offenen Mobilitätsmöglichkeiten für viele Menschen keine Option sind - es gibt sie nicht -, dass Tausende vor Verfolgung, Folter, Vergewaltigung und Bürgerkrieg auf der Flucht sind und um das nackte Überleben kämpfen, spielt bei dieser pauschalen, aber durchaus eingängigen Diffamierung keine Rolle. Die eigentliche Dimension der Illegalität der europäischen Flüchtlingspolitik, dass Tausende an den Grenzen Europas auf brutalste Weise aufgehalten werden, ohne dass sie die Chance haben, einen Asylantrag zu stellen, dass Ungarn und Serbien ihre Grenze geschlossen haben, Kroatien Geflüchtete gewaltsam nach Serbien, Bosnien oder Herzegowina zurückdrängt, Griechenland auf den Ägäischen Inseln täglich Pushbacks zurück in die Türkei praktiziert und am Grenzfluss Evros zwischen der Türkei und Griechenland die griechischen Grenzschützer mit Tränengas und Blendgranaten gegen diejenigen vorgehen, die versuchen, die Landesgrenze zu überqueren – diese Dimension der Illegalität verkommt inzwischen zur diskursiven Randnotiz. Das Buch von Franziska Grillmeier, “Die Insel“, ist eine eindringliche Leseempfehlung für diejenigen, die sich der Konfrontation mit den unmenschlichen Bedingungen von Geflüchteten auf Lesbos, jenem insularen “Menschenrechtsfriedhof“, nicht verweigern wollen. Ist man/frau bereit, sich mit dieser erschreckenden Realität europäischer Abschottungspolitik auseinanderzusetzen, dann erscheint das allgegenwärtige Narrativ, Deutschland stünde wegen der vielen Geflüchteten an der “Belastungsgrenze“, gelinde gesagt, als das Substrat einer umweltvergessenen, nationalen Selbstbekümmerung. Natürlich: Kriegsbeistand zu leisten, mehr als eine Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, ist nicht ohne nationale Anstrengung zu bewältigen. Dass aber dieser Akt „familialer Solidarität“ zu Lasten einer abwertenden Kriminalisierung anderer Geflüchteter führt, ist so durchschaubar wie menschenverachtend.

Interkulturelle Woche: Neue Räume?

Wenn sich die Interkulturelle Woche in diesem Jahr dem Motto “Neue Räume“ widmet, so kann sie nicht umhin, jene Verweigerung von Zugangsräumen politisch zu skandalisieren. Das europäische Grenzregime verschließt gegenwärtig massiv Räume der Sicherheit für diejenigen, die nur eines wollen: Ein Leben ohne Verfolgung, Folter, Mord, Vergewaltigung und Bürgerkrieg. Dem jüdischen Schriftsteller, Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebenden Eli Wiesel wird zugeschrieben, dass er mit seinem Votum “No Human Being is illegal“ als Inspirator des Aktionsnetzwerks “Kein Mensch ist illegal“ gedient hat. Nicht nur in seinem, sondern auch im Namen all derer, die getrieben auf der Flucht sind, sollten wir deutlich, unmissverständlich und laut an diese Botschaft erinnern.  

Prof. Dr. Uwe Becker ist seit Oktober 2022 Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Weitere Informationen zu seiner Vita finden Sie hier.

Kontakt: uwe.becker@eh-darmstadt.de.

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