Der Migrationshintergrund steht seit längerem in der Kritik. Das Statistische Bundesamt hat deshalb eine neue Kategorie eingeführt. Erstmals liegen jetzt Zahlen dazu vor. Wirklich abgeschafft wird der Migrationshintergrund aber nicht. Der Mediendienst Integration hat die wichtigsten Informationen in einem Factsheet zusammengefasst. Wir veröffentlichen eine Kurzversion.
Seit 2005 erfasst das Statistische Bundesamt im Mikrozensus den Migrationshintergrund. Er ist eine wichtige Kategorie in Statistik und Forschung, etwa wenn es um Teilhabe an Bildung oder am Arbeitsmarkt geht. Seit Jahren steht der Begriff in der Kritik. 2021 hat eine Fachkommission der Bundesregierung vorgeschlagen, den Migrationshintergrund aufzugeben und zu ersetzen durch "Eingewanderte und ihre Nachkommen." Das Statistische Bundesamt hat im März 2023 erstmals Zahlen dazu veröffentlicht. Abgeschafft wird der Migrationshintergrund jedoch nicht. Auch in der Forschung gibt es geteilte Meinungen darüber, wie mit dem Begriff umgegangen werden soll und was gute Alternativen sein könnten.
Worum geht es?
- Als "Personen mit Migrationshintergrund" gelten Menschen, die selbst oder deren Eltern nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden.
- Als "Eingewanderte und ihre Nachkommen" – gleichbedeutend mit "Menschen mit Einwanderungsgeschichte" – gelten Personen, die seit 1950 selbst zugewandert sind oder deren Eltern beide zugewandert sind.
Die wichtigsten Unterschiede sind:
- Migration statt Nationalität ausschlaggebend: Beim Migrationshintergrund geht es darum, ob die Person oder mindestens ein Elternteil mit ausländischer Staatsbürgerschaft geboren wurde oder nicht. Bei "Eingewanderte und ihren Nachkommen" geht es darum, ob die Person selbst oder beide Eltern eingewandert sind. Wichtig ist also, ob sie Erfahrungen mit Migration gemacht haben.
- Dritte Generation fällt raus: Beim Migrationshintergrund ist es möglich, dass auch die dritte Generation einen Migrationshintergrund hat. Wenn ein Elternteil in Deutschland mit ausländischer Staatsangehörigkeit geboren wurde, hatten auch die Kinder einen Migrationshintergrund, obwohl die Eltern nicht selbst zugewandert waren. Bei "Eingewanderte und ihre Nachkommen" geht es wirklich nur um die eigene Migrationserfahrung oder die beider Eltern.
- Beide Eltern haben Migrationserfahrung: Die Fachkommission hatte gefordert, Personen, bei denen nur ein Elternteil zugewandert ist, nicht zu "Eingewanderte und ihre Nachkommen" zu zählen. Die Begründung: Sie machten ähnliche Erfahrungen – zum Beispiel in der Schule – wie Personen, deren Eltern beide in Deutschland geboren wurden. Wirklich umgesetzt wurde diese Forderung nicht: Sie zählen zwar nicht zu "Eingewanderten und Nachkommen", werden aber in der Statistik gesondert ausgewiesen und nicht zu den Personen ohne Einwanderungsgeschichte gezählt.
- Einfachheit: Die neue Definition ist deutlich klarer und kompakter als der Migrationshintergrund. Um den zu erheben, werden im Mikrozensus 19 Fragen genutzt.
- International anschlussfähig: Die Daten für "Eingewanderte" liegen auch für andere EU-Staaten vor. Die Daten sind deshalb vergleichbar. Für die Nachkommen ist das nur eingeschränkt der Fall.
Um wie viele Personen geht es?
2021 lebten in Deutschland rund 22,6 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund - das entspricht 27,5 Prozent der Bevölkerung. Rund 13 Prozent der Gesamtbevölkerung hatten eine ausländische Staatsbürgerschaft. (Quelle)
"Eingewanderte und ihre Nachkommen" gab es rund 19 Millionen. Davon gehören 4,7 Millionen Personen zu den Nachkommen, sie sind also nicht selbst zugewandert, sondern beide Eltern. 3,7 Millionen Personen haben eine "einseitige Einwanderungsgeschichte", bei ihnen ist also ein Elternteil zugewandert. (Quelle)
Der Anteil der Personen ohne Migrationshintergrund und ohne Einwanderungsgeschichte liegt bei jeweils 72,5 Prozent, es gibt aber kleine Unterschiede: So fällt bei "Eingewanderte und ihre Nachkommen" die dritte Generation raus. Es kommen aber Personen hinzu, die mit Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit im Ausland geboren wurden und dann eingewandert sind – das sind rund 79.000 Personen. (Quelle /Quelle)
Werden Diskriminierungserfahrungen erhoben?
Nein. Eine Kritik am Konzept Migrationshintergrund ist, dass er oft für die Untersuchung von Benachteiligung und Ungleichheiten verwendet wird, aber dafür nur bedingt geeignet ist. Etwa wenn es um rassistische Diskriminierung geht: Denn es gibt viele Personen, die Rassismus erfahren, aber keinen Migrationshintergrund haben, darunter viele Schwarze Menschen oder Sinti*zze und Rom*nja. Zwar ist der Migrationshintergrund dafür auch nicht vorgesehen, bislang mangelt es jedoch an Alternativen.
"Eingewanderte und ihre Nachkommen" ist zwar klarer definiert als der "Migrationshintergrund", ändert an diesem Problem aber nichts. In einer Debatte des Wissenschaftsvereins Rat für Migration, der Träger des Mediendienst Integration ist, fordert die Sozialanthropologin Anne-Kathrin Will, nur noch zu erheben, ob Personen selbst eingewandert sind oder nicht. Dann gehe es nur noch um Migration. Um Ungleichheit und Diskriminierung zu erforschen, müsse soziale Herkunft und oder die Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Minderheit erhoben werden.
Andere Forscher*innen sehen das skeptisch. Es müsse zunächst wissenschaftlich getestet werden, ob sich andere Kategorien besser eignen als der "Migrationshintergrund", meint etwa Merih Ateş vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor.
Eine Erweiterung des Migrationshintergrundes haben die Verfasser*innen des Berliner Partizipationsgesetzes 2021 vorgenommen. Es soll die Teilnahme von Menschen in der Politik fördern und richtet sich an "Menschen mit Migrationsgeschichte". Die sind wie folgt definiert: "Als Personen mit Migrationsgeschichte gelten Personen mit Migrationshintergrund, Personen, die rassistisch diskriminiert werden und Personen, denen ein Migrationshintergrund allgemein zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung kann insbesondere an phänotypische Merkmale, Sprache, Namen, Herkunft, Nationalität und Religion anknüpfen". Es ist ein Versuch, den verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden. Begriffliche Klarheit schafft die Definition allerdings nicht.
Was ändert sich in der Statistik?
Das Statistische Bundesamt schafft den Migrationshintergrund erstmal nicht ab. Auch in der Forschung gibt es geteilte Meinungen zur weiteren Verwendung des Begriffs. Zunächst veröffentlicht das Bundesamt sowohl die Zahlen zum Migrationshintergrund als auch die neuen Zahlen zu "Eingewanderten und ihren Nachkommen" – es entsteht also eine Parallelstruktur. Erste Zahlen wurden im März veröffentlicht, im Mai sollte es weitere Daten geben. Nach einer Zeit wird das Amt evaluieren, ob das so fortgeführt wird. Ob und inwiefern Diskriminierungserfahrungen in amtlichen Statistiken berücksichtigt werden, bleibt offen.
Wichtige Quellen
Hintergrundpapier des Statistischen Bundesamtes zur Einführung von "Eingewanderten und ihren Nachkommen" 2023
Fachkommission Integrationsfähigkeit: "Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten", S. 218ff.
Debatte des Rat für Migration (2022)
Anne-Kathrin Will (2020): "Wie werden Zuwanderer und ihre Nachkommen in der Statistik erfasst?", Expertise für den Mediendienst
Anne-Kathrin Will (2020): Migrationshintergrund - wieso, woher, wohin?, bpb
Dieser Text erschien zuerst am 23. März beim Mediendienst Integration unter den Regeln der Creative Commons.
Andrea Pürckhauer hat Internationale Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Sie hat beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, dem Netzwerk Plurale Ökonomik und dem Rat für Migration gearbeitet. Seit 2019 ist sie Redakteurin beim Mediendienst Integration, seit Oktober 2020 stellvertretende Redaktionsleiterin, seit 2022 hat sie die Wissenschaftliche Leitung inne.
Kontakt: puerckhauer/@/mediendienst-integration.de