Im Wechselbad der Diskurse nach dem Sommer der Flucht

Willkommenskultur 2015: Am 5. September brachten Hunderte Freiwillige Lebensmittel, Geträmke und Kleidung für Geflüchtete in den Hauptbahnhof in Frankfurt am Main. Foto: imago/epd
Im Wechselbad der Diskurse nach dem Sommer der Flucht
Der Sozialethiker Uwe Becker analysiert in seinem Buch "Deutschland und seine Flüchtlinge" die medialen Debatten ab 2015 – Absolut lesenswert
Beate Sträter

Man kann die Frage stellen, warum eine Analyse der Ereignisse im Sommer 2015 und den darauf folgen Monaten so viele Jahre später noch aktuell bedeutsam ist. Doch bei einem aufmerksamen Blick auf die aktuellen asylpolitischen Debatten und erneut seit der medialen und politischen Resonanz auf Silvesternacht 2022/ 23 stellen sich bei der Lektüre dieses Textes Déjà-vu- Erfahrungen ein.

Mit  Methoden der Diskursanalyse nimmt Uwe Becker eine breit angelegte Untersuchung der Debatten in der medialen Öffentlichkeit und ihrem Widerhall in politischen Entscheidungen vor. Er analysiert hierfür eine große Fülle von Artikeln in der Zeit und auf Zeit online, also Medien der bürgerlichen Mitte.

Mechanismus der Umdeutung

Die Kapitel des Buches zeichnen die Stationen der Diskurse im Sommer 2015 und den folgenden Monaten nach: Es beginnt mit der Debatte um die Figur des "Schleppers" als dem vermeintlich eigentlichen Verursacher des Sterbens im Mittelmeer. Bereits hier zeigt sich der Mechanismus der Umdeutung, wonach nicht eine unmenschliche Abschottung Menschen in diese Gefahr zwingt, sondern kriminelle Machenschaften. Die euphorische Begeisterung über die „Willkommenskultur“ und ihre schnelle Diffamierung als naives Gutmenschentum, das letztlich zu Enttäuschungen führen muss, wird zu einem konstant behaupteten Narrativ, dass jedoch überhaupt nicht dem fortgesetzt großen Engagement der Zivilgesellschaft entspricht.

Videointerview: Uwe Becker über deutsche Abschottung und die Aufteilung in "gute" und "schlechte" Flüchtlinge.

Mit großer Präzision und intellektueller Schärfe zeichnet Uwe Becker den Verlauf des medialen und politischen Diskurses nach und zeigt, wie aus Behauptungen, die teilweise einer Realitätsprüfung nicht standhalten können, die Legitimation weitreichender politischer Entscheidungen werden, die den Flüchtlingsschutz weiter beschneiden. Er entlarvt Argumentations- und Sprachfiguren, die implizit rechten und rassistischen Positionen Vorschub leisten, ein dichotomisches Denken in Freund-Feind-Schemata begünstigen und zu pauschalen Verunglimpfungen, nicht nur der Geflüchteten, sondern auch ihrer Unterstützer*innen führen. Einen traurigen Höhepunkt bieten hier die medialen und politischen Reaktionen auf die Kölner Silvesternacht, an der die Beurteilung der Aufnahme von Geflüchteten im Sommer 2015 endgültig kippt und massive rechtliche Verschärfungen nach sich zieht. Bei all dem zeigt sich allerdings auch, dass die öffentlichen Diskurse in der Rückschau häufig nur eine Orchestrierung sich bereits im Hintergrund vollziehender Maßnahmen sind, mit denen die Rechte von Geflüchteten weiter ausgehöhlt werden und sich gleichzeitig an den Außengrenzen Europas und in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers ein Grenzregime weiter ausbaut, dass den Weg nach Europa für die meisten unmöglich macht.

Um Geflüchtete als Subjekte geht es nie

Besonders erhellend ist die Aufdeckung dieser Verschiebungen, die sich fast unbemerkt in der Debatte vollziehen. Grundsätzlich geht es nie um die Geflüchteten als Subjekte, mit ihren unterschiedlichen biografischen und persönlichen Hintergründen, ihren leidvollen Erfahrungen und ihrer Hoffnung auf ein sicheres Leben. Wenn überhaupt, kommen sie selbst nur in klischeehaften Überzeichnungen vor. Im Fokus, das zeigt Uwe Becker prägnant an vielen Beispielen, steht Deutschland, stehen "wir" stehen Ängste und Befürchtungen von Chaos, Staatsversagen und Kontrollverlust. In den Geflüchteten selbst wird die Ursache für Proteste, der Bedrohung von Kommunalpolitikeri*innen und das Erstarken rassistischer und rechtsextremistischer Bewegungen verortet, während der Staat als ohnmächtig und nicht handlungsfähig erscheint. Wenn positiv über Geflüchtete gesprochen wird, so vor allem als ökonomischer Nutzen für "uns", wird die ökonomische Notwendigkeit von Zuwanderung herausgestellt.

Ein Instrumentarium, mit dem auch gegenwärtige Diskurse kritisch untersucht werden können

In manchen Teilen erfordert die Lektüre Konzentration und die Bereitschaft, sich auf die differenziert und mit sozialwissenschaftlicher Methodik durchgeführte Analyse einzulassen. Doch diese Gründlichkeit ist nötig, damit dieses Unterfangen nicht als eine oberflächliche Medienschelte missverstanden wird. Vielmehr sind die sprachlichen und argumentativen Verflechtungen, die zum Entstehen wirkmächtiger Narrative führen, genau in den Blick zu nehmen, um sie zu entschlüsseln. Hierfür gibt Becker ein Instrumentarium an die Hand, mit dem auch gegenwärtige und zukünftige Diskurse kritisch untersucht werden können. Dies zeigt zum Beispiel der Epilog zur aktuellen Situation der ukrainischen Geflüchteten.

"Deutschland und seine Flüchtlinge": Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Uwe Becker an der Evangelischen Hochschule RWL Bochum, 23. Juni 2022.

Als Konsequenz stellt sich die Frage, was getan werden kann, damit Diskurse die Differenziertheit der Wirklichkeit abbilden, wie es gelingt, dass Ursache und Wirkung gesellschaftlicher Probleme nicht verkehrt werden und Menschen, die geflüchtet sind oder dies noch tun werden, als Subjekte ihres Lebens gesehen und ihre Würde geachtet wird. Ein wichtiges und unbedingt lesenswertes Buch, das den Blick schärft und ermutigt, scheinbar plausiblen, aber oft nur konstruierten Behauptungen nicht vorschnell Glauben zu schenken, sondern sie in Frage zu stellen und wo es Not tut deutlich zu widersprechen.

Beate Sträter ist Vorsitzende des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses zur Interkulturellen Woche. Sie arbeitet als Schulreferentin in Bonn und ist außerdem Vorsitzende der Fachgruppe Christen – Muslime in der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Weitere Informationen

Buchcover

Uwe Becker: Deutschland und seine Flüchtlinge. Das Wechselbad der Diskurse im langen Sommer der Flucht 2015, Transkript-verlag Bielefeld, 2022, 284 Seiten

Uwe Becker ist Professor für Sozialethik, Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Er publiziert zu Themen gesellschaftlicher Exklusion u.a. in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und der ZEIT.

Becker kann für Lesungen, Diskussionsrunden und andere Formate im Rahmen der Interkulturellen Woche angefragt werden.

Kontakt:
Telefon: 0172 / 2415415
E-Mail: uwe.becker@eh-darmstadt.de