Nach der Flucht; Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft - Mark Terkessidis

Nach der Flucht; Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft - Mark Terkessidis
2017

„Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“ verspricht der Journalist, Autor und Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinem aktuellen Essay „Nach der Flucht“. Und tatsächlich: Indem er etablierte Begriffe der Debatte und der Praxis hinterfragt, eröffnet er einen neuen Blick auf das, was wir gemeinhin „Integration“ nennen – und entwirft ein radikal neues Modell davon.

Zunächst nimmt Terkessidis sich den Begriff „Vielfalt“ vor, der auch von der Interkulturellen Woche häufig benutzt wird. Für den Autor ist er jedoch eher eine „Verniedlichung der Umstände“ - weil er Konflikte unter den Tisch fallen lässt, die die Einwanderungsgesellschaft mit sich bringt. Stattdessen plädiert er für den Begriff „Vielheit“ - und schafft damit den Gegensatz zu „Einheit“. Diese Einheit, die oft in der Sehnsucht nach „früher“ zum Ausdruck komme, als die deutsche Gesellschaft doch noch so schön einheitlich war, könne es nicht mehr geben. Und sie habe es auch nie gegeben in der deutschen Geschichte, die schon immer von Einwanderung geprägt war.

Mark Terkessidis
Mark Terkessidis. Foto: Andreas Langen

In diesem Zusammenhang fragt er ebenfalls, ob der Begriff „Integration“ noch der richtige ist. Denn ist nicht eine Bedeutung des Wortes die (Wieder-)Herstellung von Einheit? Wohin sollen sich also Zugewanderte integrieren, wenn die deutsche Gesellschaft immer heterogener wird? Was ist die „Norm“, wenn in Städten wie Frankfurt am Main oder Stuttgart zwei Drittel der Kinder einen Migrationshintergrund haben? Reicht es nicht, sich an Recht und Gesetz zu halten, oder sind Zugewanderte – und das kritisiert Terkessidis – zu „Zusatzleistungen in Sachen kultureller Anpassung“ verpflichtet?

Ausgehend von dieser Analyse widmet sich der Autor den vielen Angeboten und Maßnahmen, die die Integration vorantreiben sollen – und kritisiert, dass sie in aller Regel als „Sonderprogramme“ laufen, neben dem „Regelbetrieb der Institutionen, Organisationen und Einrichtungen“. Müsste man das nicht ändern? Sollte etwa die Schule nicht alle Kinder zusammen fördern, die etwa Probleme mit Sprache haben, und nicht die einen im Regelunterricht und die anderen in „Flüchtlingsklassen“.

Der Autor plädiert für einen radikalen Perspektivwechsel: Nicht der Migrationshintergrund eines Menschen rückt in den Vordergrund (wie bisher), sondern einzig sein Bedarf nach Förderung. Gleichzeitig muss die Tatsache, dass jemand einen Migrationshintergrund hat, von den Akteuren in Behörden, in Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen oder in Wohlfahrtsverbänden mitgedacht und gegebenenfalls auch mitbeachtet werden – wenn er die oder eine Ursache für Benachteiligung ist. Für Terkessidis ist das eine „Kunstfertigkeit im Handeln“, die zu Ende gedacht alle speziell auf Zugewanderte zugeschnittenen Programme überflüssig machen würde.

Gelingen soll das durch „Vielheitspläne“, die Institutionen, Organisationen und Einrichtungen entwickeln sollen. Sie beinhalten etwa Maßnahmen zur Personalgewinnung, damit sich die Heterogenität der „Kundschaft“ auch dort wiederfindet. Denn wo ist eigentlich die Parallelgesellschaft, fragt Terkessidis, wenn in einer Grundschulklasse Kinder mit vielen verschiedenen „Migrations“- Hintergründen sitzen, sich im Lehrerzimmer aber eine weitgehend homogene Gruppe aus „biodeutschen“ Vertreterinnen und Vertretern der Mittelschicht findet? Ebenso zum Konzept der Vielheitspläne gehört die Auseinandersetzung mit eigenen (unterbewusstem) rassistischen  Mustern und Einstellungen, sowie das Überdenken von Arbeitsabläufen. Einfach wird das nicht, das weiß der Autor, doch er plädiert für Optimismus und einen langen Atem. Und die Bereitschaft zum Streit, denn: „Niemand hat gesagt, die Gesellschaft der Vielheit sei eine gemütliche Angelegenheit“.

 

Infos
Kontakt

Mark Terkessidis hat im März sein neues Buch „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ veröffentlicht. Er kann für Lesungen und Diskussionsveranstaltungen im Rahmen der Interkulturellen Woche eingeladen werden. Anfragen bitte an mark.terkessidis@isvc.org