Alle Bewohner der Erde aber hatten eine Sprache und ein und dieselben Worte. Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und ließen sich dort nieder. Und sie sagten zueinander:
Auf, wir wollen Ziegel formen und sie hart brennen. So diente ihnen der Ziegel als Baustein, und der Asphalt diente ihnen als Mörtel. Und sie sagten: Auf, wir wollen eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, und uns so einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.
Da stieg der HERR herab, um die Stadt zu besehen und den Turm, die die Menschen bauten. Und der HERR sprach: Sieh, alle sind ein Volk und haben eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Nun wird ihnen nichts mehr unmöglich sein, was immer sie sich zu tun vornehmen.
Auf, lasst uns hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr die Sprache des andern versteht. Und der HERR zerstreute sie von dort über die ganze Erde, und sie ließen davon ab, die Stadt zu bauen. Darum nannte man sie Babel, denn dort hat der Herr die Sprache aller Bewohner der Erde verwirrt, und von dort hat der HERR sie über die ganze Erde zerstreut.
Vielfalt ist eine Strafe. So haben wir das gelernt, im Kindergottesdienst, im Konfirmandenunterricht und auch mal in der Schule, wenn im Kunstunterricht Pieter Brueghel mit einem der bekanntesten seiner bekannten Bilder an der Reihe war. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel, sie reiht sich ein in die Geschichten vom Versagen und Scheitern des Menschen, die die Bibel gleich am Anfang erzählt. Der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies, dann der erste Mord unter Menschenbrüdern, die merkwürdige Geschichte von den Gottessöhnen und Menschentöchtern, die die "Riesen auf Erden" und die "hochberühmten Helden" hervorbringen und natürlich die Geschichte von der Sintflut.
Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist eines der Bilder vom Anfang – und doch ein Bild jenseits von Eden. Die Sintflut, das ganz große Abwaschen, dem nur Noah und seine Familie entronnen sind, liegt hinter der Menschheit. Und kaum haben sie sich etwas berappelt und wieder vermehrt, blicken sie sich um in der weiten Ebene im heutigen Irak, in der eigentlich gar nichts ist und tun dort, was nur Menschen können, die Kopf und Hände haben und beides einzusetzen wissen: aus nichts etwas machen und noch aus Dreck etwas bauen.
DER EINZELNE MENSCH IST EIGENTLICH NICHTS IN BABEL
Aber die Sprache, die Worte, die alle verstehen, sie dient hier nicht dem gegenseitigen Verstehen und nicht dem Austausch. Wozu sind die Worte auf der Welt? Doch wohl, damit die Menschen sich verstehen, offen aufeinander zugehen. Aber die Sprache Babels ist eine Sprache, in der Absprachen getroffen, Anweisungen gegeben und Befehle erteilt werden. Graben, streichen, brennen, schleppen und bauen, planen und ausführen, anordnen und gehorchen, keine Fragen stellen, weil es doch reicht, dass einige wissen, wo es langgeht. Und langsam nimmt sie Gestalt an, die Stadt, mit den breiten Straßen für die großen Aufzüge, mit Plätzen, auf denen sich gefühlt das ganze Volk versammeln kann, mit Sichtachsen und den monumentalen Gebäuden, vor denen sich einzelne Menschen nur klein und unbedeutend vorkommen können. Ein Turm, der in den Himmel reicht. Es schwindelt dich, wenn du zu seiner Spitz hinaufsiehst, und von oben erscheinen sie ameisengleich, die Menschen zu seinen Füßen. Denn mehr bist du nicht, in dieser Stadt. Du bist eigentlich nichts, wie du da gräbst und baust und schleppst und gehorchst für das große Ganze.
Und dann tritt genau das ein, was sie befürchtet haben. Am Ende können sie sich nicht mehr verstehen. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen, sie können keine Absprachen mehr treffen und keine Anweisungen mehr geben und gehen frustriert vom diesem Ort weg, der zum Symbol ihres Hochmuts und ihres Scheiterns geworden ist. Da steht er nun, der Turm, halbfertig. Einer hat es ihnen gezeigt, diesen Menschlein, die so hoch hinauswollten. Gott hat es ihnen gezeigt. Gott ist einer, der es den Menschen zeigt, wenn sie zu hoch hinauswollen. Ein Gott, der Menschen klein macht? Und Vielfalt als Strafe? Es ist fragwürdig, was wir gelernt haben, im Kindergottesdienst und Konfirmandenunterricht und in der Schule.
VIELFALT ALS STRAFE? EIN MISSVERSTÄNDNIS!
"Wenige Erzählungen sind so völlig missverstanden worden wie diese", schreibt Benno Jacob in seinem Kommentar zu dieser Geschichte. Lasst uns aufräumen, lasst uns Stein für Stein von den Trümmern dieses Turmes aufheben und abklopfen, sorgfältig und genau.
Die Worte sind auf der Welt und Menschen verstehen sich. So soll es sein. Aber schon fängt es an, dass die einen ganz genau wissen, was gut ist für die anderen und alle das Gleiche wünschen und wollen und tun sollen. Die Worte sind in der Welt, es ist die Sprache Babels, es ist eine Geschichte eines Anfangs, eine Geschichte, in der es irgendwie in die falsche Richtung geht. Und wie gut, dass einer eingreift und sagt "So nicht". Wie gut, dass es nicht weitergeht mit dieser Stadt, dass sie aufhören müssen und weggehen. Wie gut, dass sie dort nicht bleiben können.
Gott will die Menschen nicht eingemauert sehen in der einen Stadt unter dem einen Turm, ängstlich und geduckt mit dem Blick nach oben zu denen, die ihnen sagen, wo es langgeht. Die mühsame ameisengleiche Arbeit der vielen Menschen, die graben, streichen, brennen, tragen und bauen müssen – und dort ein Gott, dem ein einziges Tätigkeitswort genügt. Eine Sklaverei, in die sich Menschen diesmal noch aus freien Stücken begeben haben. Später, in Ägypten, werden sie wieder Ziegel streichen und brennen, die das Zeichen des Pharao, des fremden Herrschers tragen.
Der Blick auf den Ziegelstein ist ein Blick in die Zukunft, in die sich Menschen begeben, wenn sie anfangen, sich einzumauern: "Die Erzählung ist (…) die Verurteilung eines extremen Zentralismus, dessen letzte Konsequenz eine einzige Welt-Stadt mit einem möglichst hohen Wolkenkratzer als Symbol der Konzentration ist, eines Herdensinnes, der sich nur in der Masse und Zusammendrängung geborgen fühlt und das Endziel darin sieht, die gesamte Menschheit unter einen Turm zu bringen" (Benno Jacob, 302). Der jüdische Exeget Jacob hatte bei Erscheinen seines Kommentars im Jahr 1934 den Beginn eines neuen Großreiches schon vor Augen.
VIELSTIMMIGKEIT UND VIELFALT STATT EINTÖNIGKEIT UND EINHEITLICHKEIT
Aber Gottes Plan kommt da zum Ziel, wo Menschen sich auf den Weg machen in das Land, das er ihnen zeigen will, wo sie zu großen Völkern werden und die Fülle seines Segens auf der ganzen Welt verteilen. Gleich nach dem Kapitel vom Turmbau kommt das Kapitel vom Aufbruch Abrahams in ein neues Land, des Abrahams, auf den sich gleich mehrere Religionen berufen. Vielstimmigkeit und Vielfalt sind keine Strafe, sondern Gottes Plan für seine Welt und seine Menschen. Die Worte sind auf der Welt und die Menschen haben sich zerstreut über die ganze Welt, sind in die Fremde gezogen und dort zu Fremden geworden und wieder heimisch. Eine Geschichte vom Anfang, heute neu gehört. Die Pläne der Menschen, die graben und bauen und brennen und tragen in Babel, sie stimmen offenbar nicht überein mit dem Plan des großen Baumeisters.
Die Worte sind auf der Welt und Menschen verstehen sich. Auch die Geschichte vom Anfang der christlichen Kirche erzählt später davon. Es kam über sie an Pfingsten und sie verstanden einander, aber es war nicht mehr die Sprache Babels, die da gesprochen wurde, sondern die Muttersprache der Parther und Meder und Elamiter und derer, die wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und der Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber. Die Muttersprachen all der Fremden und Gäste und Migranten und Einwanderer. Vielstimmigkeit und Vielfalt statt Eintönigkeit und Einheitlichkeit, Offenheit füreinander und ein Geist der Vielfalt und Lebendigkeit.
So war die Kirche an ihrem Anfang und so soll sie heute sein, in all den Städten und Dörfern, den Ländern und Kontinenten der einen Welt, die Gott gemacht hat.
Die Worte sind in der Welt und Menschen verstehen einander. Und zu unserem Glück sprechen wir nicht mehr die Sprache Babels, sondern haben verschiedene Muttersprachen, auch im Glauben. Lasst uns offen füreinander sein, wenn wir uns begegnen.
Amen
Dieser Text ist im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2021 erschienen, das Sie hier bestellen können.
Kathrin Oxen ist seit 2018 Pfarrerin der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Zuvor leitete sie das Zentrum für ev. Gottes dienst und Predigtkultur (ZfGP) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in der Lutherstadt Wittenberg. Sie erhielt mehrere PredigtPreise und bildet ehrenamtlich Predigende aus. Beim Deutschlandfunk Kultur und beim RBB spricht sie Rundfunkandachten, seit 2019 ist sie außerdem Moderatorin des Reformierten Bundes.
Kontakt: oxen@gedaechtniskircheberlin.de