Was hält Menschen in einer Gesellschaft zusammen? Wieviel Gemeinsamkeiten und Konsens braucht es, damit Zusammenleben in Vielfalt gelingt? Wieviel Dissens ist fruchtbar? Und was gilt es zu tun, um ein gutes Miteinander in Gerechtigkeit und Respekt zu erhalten?
Viele Menschen in Deutschland, in Europa und anderswo fragen sich derzeit, welche Auswirkungen Migration auf ihre Gesellschaft und deren Zusammenhalt haben. Die Diskussion darüber polarisiert. Das ist kein Wunder, denn die Herausforderungen sind groß und die praktischen Mittel immer begrenzt. Es gibt keine einfachen Lösungen. Komplexe Probleme erfordern komplexe Antworten.
Wir sind überzeugt: Deutschland ist mit der Aufnahme von Flüchtlingen zwar stark gefordert, aber nicht überfordert. Das haben die vergangenen Monate deutlich gezeigt – auch wenn lautstarke Stimmen und populistische Bewegungen anderes behaupten und mit Ressentiments und teilweise sogar mit Rassismus nicht nur Gehör, sondern manchmal auch Zustimmung finden. Doch politisches Denken und Handeln, das an den Grenzen des eigenen Landes halt macht, führt nicht weit in einer Welt, die durch Handelsbeziehungen, kulturellen Austausch und die modernen Kommunikationsmittel klein geworden ist. Nationalistische Argumente und Forderungen gehen darüber hinaus auf Kosten von Minderheiten, Schwächeren und Notleidenden. Und wenn Fakten durch Vorurteile ersetzt werden, ist die vernünftige Diskussion kaum noch möglich.
Die aktuelle Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen verweist mehr denn je auf die größeren, grundsätzlichen Fragen von respektvollem Miteinander, freiheitlichen Grundrechten und demokratischer Willensbildung. Als christliche Kirchen sagen wir in aller Klarheit: Politik, die Fremdenfeindlichkeit schürt, von Angst gegen Überfremdung lebt, einseitig nationale Interessen betont, ein nationalistisches Kulturverständnis pflegt und Grundfreiheiten in Frage stellt, ist mit einer christlichen Haltung nicht vereinbar. Ausländerfeindlichkeit, Diffamierung anderer Religionsgemeinschaften, die Überhöhung der eigenen Nation, Rassismus, Antisemitismus, Gleichgültigkeit gegenüber der Armut in der Welt – all das führt nicht in eine gute Zukunft. Die Verantwortung für das Gemeinwohl beginnt bei uns – auch schon bei der Wahl der Worte. Es ist nicht gleichgültig, in welcher Art und Weise wir miteinander sprechen.
Als Christen übernehmen wir nicht den Stil von Scharfmachern oder Fundamentalisten, wir argumentieren sachlich, differenziert und mit Respekt. Wir debattieren, aber stellen nicht alles zur Debatte. Wir appellieren an die demokratischen Parteien, den Wahlkampf in diesem Jahr entsprechend fair und sachbezogen zu führen.
Als Kirchen sagen wir in aller Deutlichkeit: Jeder Mensch ist mit einer gottgegebenen unveräußerlichen Würde ausgestattet. Sie gilt es zu achten, zu schützen und zu verteidigen. Dieses Menschenbild hat in den Menschenrechten, im deutschen Grundgesetz wie auch im europäischen Recht seine rechtliche, säkulare Entsprechung gefunden.
Wir bitten die vor Ort Verantwortlichen, die in der Interkulturellen Woche tätig sind: Beziehen Sie Position! Ermutigen Sie andere Menschen, Haltung zu zeigen, für Menschenrechte und demokratische Spielregeln. Machen Sie Mut zur Begegnung und zum Austausch, damit sich die Menschen in unserem Land besser kennen- und verstehen lernen. In der Begegnung wächst die Kraft, Ablehnung und Ausgrenzung zu überwinden.
Die Konflikte vor Europas Toren, insbesondere der Krieg in Syrien, zwingen weiterhin Millionen zur Flucht. Vor allem die angrenzenden Staaten tragen die Hauptlast der Aufnahme und der Versorgung der Schutzsuchenden. Wir sehen die Verzweiflung der Menschen, die vor geschlossenen Grenzen stehen, abgewiesen oder in Not zurückgedrängt werden. Das Recht auf Asyl ist ein individuelles Grund- und Menschenrecht, das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa beachtet werden muss. Ein Grundrecht kann nicht begrenzt und kontingentiert werden.
Rund 5.000 Menschen sind im vergangenen Jahr im Mittelmeer ertrunken, darunter viele Frauen und Kinder. So viele, wie noch nie in einem Jahr. Sie waren auf der Flucht vor Krieg und Not und sahen ihre einzige Chance auf Zukunft in der lebensgefährlichen Überfahrt. Sie suchten nach einem besseren Leben. Über 30.000 Menschen haben in den letzten Jahren auf diesem Weg nach Europa ihr Leben verloren. Damit ist die europäische Außengrenze, die Grenze unseres Kontinents, die tödlichste Grenze der Welt. Wir fordern legale Zugangswege nach Europa und die verstärkte Bekämpfung der Kriminalität von Schleppern und Schleusern.
Wir sehen die Verzweiflung der in Deutschland lebenden Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, die ihre engsten Angehörigen nicht zu sich zu holen können. Für die Kirchen ist das Zusammenleben als Familie ein hohes Gut. Wir bitten den Gesetzgeber, dem grundgesetzlich verbürgten Schutz der Familie in der Flüchtlingspolitik hohe Priorität beizumessen.
Auch die Themen Rückkehr und Abschiebung treiben uns um. Den Kirchen geht es nicht darum, Rückführungen grundsätzlich infrage zu stellen. Aber auch wenn ein Asylbewerber nach Abschluss eines rechtsstaatlichen Verfahrens in seine Heimat zurückkehren muss, trägt unser Land eine Mitverantwortung für sein Wohlergehen. Abschiebungen in lebensgefährliche Gebiete sind inakzeptabel. Kein Mensch darf in eine Region zurückgeschickt werden, in der sein Leben durch Krieg und Gewalt bedroht ist. Die Sicherheit der Person muss stets Vorrang haben gegenüber migrationspolitischen Erwägungen.
Über Generationen hat sich in Deutschland eine auf Zuwanderung basierende Gesellschaft entwickelt. Dabei kommt es unvermeidbar auch zu Konflikten. Doch der Alltag in Deutschland ist längst bunt. Menschen, die vor Jahrzehnten als Zuwandernde kamen, und deren Kinder und Kindeskinder sind selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Die Frage, ob wir eine vielfältige Gesellschaft wollen, stellt sich daher nicht. Sie ist Realität und es gilt sie zu gestalten und aus der Vielfalt ein starkes, gemeinsames »Wir« zu entwickeln.
Im Alten Testament findet sich die Geschichte, wie die Moabiterin Rut ihre Schwiegermutter Noomi bei der Rückkehr in ihr Heimatland Juda begleitet. Dort wird Rut, die als Migrantin erst fremd ist, zur Urgroßmutter von König David. Die »Fremde« wird also Glied im Stammbaum Jesu und Teil von Gottes Heilsplan. Diese Erzählung zeigt eine neue Perspektive auf: »Fremde« sind keineswegs nur Menschen, die unsere Unterstützung brauchen. Sie sind immer mehr als ihre Hilfsbedürftigkeit und ihr Aufenthaltsstatus; in ihrer eigenen Würde und Freiheit sind sie genauso wie »wir«. Es geht daher um viel mehr als um moralische Appelle. Es geht um die Einladung, den liebenden Blick Gottes auf alle Menschen nachzuvollziehen.
Die Interkulturelle Woche ist mit ihren 5.000 Veranstaltungen an mehr als 500 Orten in ganz Deutschland breit verankert. Die Kirchen verbinden mit ihr seit über 40 Jahren die Überzeugung, dass gerade in der Begegnung die Wertschätzung füreinander wächst. So entstehen Teilhabe und Integration. Die hunderttausende Ehrenamtlichen in Kirchengemeinden, Vereinen, spontanen Initiativen und Wohlfahrtsverbänden haben entscheidend dazu beigetragen, dass sich die »Willkommenskultur« für Flüchtlinge und Asylbewerber zu einer »Integrationskultur« weiterentwickelt hat.
In diesem Jahr des Reformationsgedenkens beginnt ein neuer Weg, der uns als Kirchen zunehmend zusammenführt. Im ökumenischen Buß- und Versöhnungsgottesdienst in der Hildesheimer Michaeliskirche im März diesen Jahres haben wir gefragt: Wozu sind wir überhaupt Kirche in diesem Land? Und haben als Antwort gefunden: Wir sind Kirche, um das Kreuz Christi zu verkünden. Das ist das Zeichen unseres Glaubens und damit das Zeichen der großen Hoffnung, dass Gott mit uns geht. Wir haben einen Auftrag, diese frohe Botschaft allen Menschen kundzutun.