Die Bundesregierung veranstaltet ein Wettrennen in zwei Richtungen gleichzeitig: zur Begrenzung von irregulärer Migration und zur regulären Gewinnung internationaler Fachpersonen. Das kann nicht wirklich funktionieren. Für die Gewinnung braucht es eine gesellschaftlich getragene Willkommenskultur, die wird aber durch Ankündigungen und Maßnahmenpakete wie zur Abschiebung sogar von Erwerbstätigen unterminiert. Und an den Zuzug internationaler Fachpersonen werden Erwartungen geknüpft, die dieser gar nicht oder nur zum Teil erfüllen kann. Die Aufregung in den Diskursen zur Migrationssteuerung und internationalen Fachkräftegewinnung wirkt völlig überzogen. Im Wahlkampf müssen andere Themen gesetzt werden.
Demografie
Von 400.000 Erwerbspersonen ist die Rede, die jedes Jahr kommen müssen, um den Geburtenrückgang auszugleichen. Diese Zahl ist demografisch nachvollziehbar. Allerdings wird selten darüber gesprochen, dass es nicht nur Fachpersonen, sondern auch gering qualifizierte Erwerbspersonen braucht.
Die Zahl der Erwerbstätigen hat mit 46 Millionen einen historischen Höchststand erreicht. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung steigt. Dafür ist, so wurde kürzlich auf der Tagung #NTM2024 des BAMF in Nürnberg festgestellt, "ausschließlich" die Beschäftigung von Ausländern verantwortlich, während die Zahl der Beschäftigten mit deutscher Staatsangehörigkeit zurück geht. Die Migration "liefert" also, zumindest was den Ausgleich des Geburtendefizits angeht, oder ja, sie übererfüllt das Ziel: seit der Wende ließ sie die Bevölkerung von 79 Millionen auf 84 Millionen Menschen anwachsen. Seit 1990 blieben die Geburten um 6 Millionen hinter den Sterbefällen zurück, während die Zuzüge die Fortzüge um 11 Millionen übertrafen. Und noch genauer hingeschaut: in der großen Mehrzahl geht das Wachstum auf Menschen zurück, die ursprünglich einmal mit Aufenthaltstiteln zu humanitären Zwecken einschließlich dem Familiennachzug ins Land gekommen sind. Ohne diese Einwanderung hätten wir unseren Wohlstand und die Fülle der Dienstleistungsangebote nicht halten können.
Zu hohe Erwartungen an Erwerbsmigration
Immer wieder wird gefordert, Deutschland müsse sich aussuchen können, welche Menschen kommen, und zwar nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Das klingt gut – in der Europäischen Union ist es aber bewusst anders geregelt worden. Hier gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit, und die Beschäftigungsquote bei EU-Staatsangehörigen ist besonders hoch. In Bezug auf Drittstaatenangehörige ist es bisher aber nie so richtig gelungen. Die bisherige Erfahrung zeigt: zwar hat die Bundesrepublik eine Fülle von gesetzlichen Regelungen geschaffen, die den Zuzug zu Erwerbs- oder Ausbildungszwecken aus dem Ausland erleichtert haben. Und die Zuzugszahlen Drittstaatangehöriger steigen zwar leicht an, so im Jahr 2023 auf 73.000 Personen. Doch das ist wie in den Jahren zuvor nur ein geringer Anteil aller Zugewanderten aus Nicht-EU-Ländern, um die 11 Prozent der Aufenthaltstitel. Es überwiegen bei weitem die humanitären Gründe, Familiennachzüge, Aufenthaltsgestattungen und Duldungen. Die Potenziale für dauerhafte Einwanderung aus den EU-Staaten sind übrigens weitgehend erschöpft.
So positiv die vom Bund geschaffenen regulären Wege zur Einwanderung sind, so wenig bleibt zu erwarten, dass Erwerbsmigration die politisch unerwünschte Fluchtmigration ersetzen kann: die im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern niedrigen Löhne und die Mühen des Deutschlernens stehen dem ebenso entgegen wie die praktische Gangbarkeit dieser Wege. Die Visa- und Genehmigungsverfahren bleiben aufwändig, eine "Skalierbarkeit" schwierig, wie die Tagung in Nürnberg zeigte.
Wer dennoch von einer großartigen Skalierbarkeit der Erwerbsmigration träumt, sollte sich an der Suche nach Lösungen für die Folgeprobleme Wohnraummangel, Kitaplätzen und Schulklassengröße und einige andere mehr beteiligen. So verständlich aus Arbeitgebersicht der Wunsch auch ist: einer Vervielfachung der Einwanderung zu Erwerbszwecken stehen viele nur schwer zu beseitigende Hindernisse entgegen.
Humanitäre Einwanderung und Familiennachzüge vergrößern die Zahl der Erwerbstätigen
Die Eingliederung Geflüchteter ist langwieriger und kostspieliger als die von auf regulären Wegen aus Drittstaaten gewonnenen Fachpersonen. Von den Schutzsuchenden und den zu ihren Familienangehörigen Nachgezogenen ist ein zunehmend großer Teil erwerbstätig. Es sind, neben EU-Zugewanderten, wesentlich die humanitären Aufnahmen, die, wenn auch über einen längeren Zeitraum und nach Überwindung vieler Hindernisse, zum Höchststand an Erwerbstätigen beitragen. Mit der Aufenthaltsdauer steigen die Erwerbstätigenquoten der 2013 bis 2019 zugezogenen Geflüchteten langsam, aber stetig: Sieben Jahre nach ihrem Zuzug belaufen sie sich auf 63 Prozent der Erwerbsfähigen, acht Jahre nach dem Zuzug auf 68 Prozent.
Geflüchtete bringen oftmals einen hohen Ausbildungs- und Qualifikationsstand mit. Aber, worüber weniger gesprochen wird, auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte werden gebraucht und gesucht.
Perspektive
Flüchtlinge wird es angesichts der Kriege und Konflikte weltweit weiter geben, und ein Teil wird auch zukünftig nach Deutschland und Europa kommen. Es macht keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen, dass unser Land zwar für Schutzsuchende attraktiv ist, für hoch qualifizierte Fachpersonen jedoch weniger. In jedem Fall sollte Einwanderung, trotz ihrer geringen Planbarkeit, in die langfristigen Bevölkerungsprognosen realistischer eingerechnet werden. Die Potenziale humanitär bedingter Zuwanderung sollten in der Arbeitsmarktpolitik mit mehr Empathie genutzt werden. Die Abschiebungen von Menschen in sozialen Berufen müssen sofort eingestellt werden; es braucht ein solides Bleiberecht für arbeitende und in Ausbildung befindliche Schutzsuchende.
Migration dämpft den Mangel an Fach- und Erwerbspersonen schon jetzt, wenn auch auf andere Weise als oft gedacht. Das migrationsbedingte Bevölkerungswachstum lindert damit viele Engpässe wie in Gesundheit und Pflege, IT und Logistikdiensten. Ist also alles gut? Keineswegs. Die Einwanderung lässt woanders Probleme verstärkt sichtbar werden, besonders zum Beispiel bei der Wohnraumbeschaffung und der personellen Ausstattung der Schulen. Die Bevölkerung wächst, die Landflucht bringt die Ballungsgebiete zum Anschwellen, aber die Infrastruktur wächst nicht mit. Jahrzehntelange Versäumnisse erzeugen ein immer größeres gesellschaftliches Konfliktpotenzial und führen zu Radikalisierung. In vielen Bereichen macht sich im Alltag das Ausbleiben von Investitionen schmerzlich bemerkbar, doch die Einwanderung darf nicht zum Sündenbock dafür gemacht werden. Wer die Gewinnung internationaler Erwerbspersonen skalieren will, muss auch massiv in Schulen, Verkehrsinfrastruktur und Wohnungsbau die Kapazitäten vergrößern und wird sich kritisch mit der Schuldenbremse befassen müssen.
Dieser Text erschien zuerst am 13. Dezember 2025 im Diakonie-Blog von Johannes Brandstäter.
Weitere Informationen
Diakonie Deutschland, Zentrum Flucht und Migration
Internationales Ausbildungsprojekt der Diakonie Württemberg zur Gewinnung von Pflegefachpersonen durch eine Ausbildung von jungen Menschen aus Drittstaaten
Diakonie Deutschland, Einwanderungspolitik und Einwanderungsgesetzgebung, Diakonie Texte 07.2019
Bundeszentrale für politische Bildung, Wie viel Zuwanderung braucht Deutschland?
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung: "Das Beschäftigungswachstum in der Pflege wird inzwischen ausschließlich von ausländischen Beschäftigten getragen"
Johannes Brandstäter ist Referent für migrationspolitische Grundsatzfragen beim Diakonie-Bundesverband und Mitglied im Ökumenischen Vorbereitungsausschuss zur Interkulturellen Woche
Kontakt: johannes.brandstaeter@diakonie.de