"Es ist eine Tragödie, dass unsere Kinder mit solchen Ängsten aufwachsen müssen."

Die Tür der Synagoge in Halle mit Einschusslöchern. Hier versuchte der Attentäter am 9. Oktober 2019 einzudringen.
"Es ist eine Tragödie, dass unsere Kinder mit solchen Ängsten aufwachsen müssen."
Wir dokumentieren die Rede von Marc Grünbaum, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Sie wurde bei einer Kundgebung in Frankfurt/M. wenige Tage nach dem Terroranschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) im Oktober 2019 gehalten.

Freunde von mir haben einen elfjährigen Sohn. Er hat wohl die Gespräche über den Anschlag in Halle während der Mittagspause des Jom-Kippur-Gottesdienstes mitbekommen und war am Donnerstag so verängstigt, dass er abends nicht mehr in die Synagoge zum Abschluss des Jom Kippurs gehen wollte. Wir Erwachsene haben gelernt mit Bedrohungen umzugehen. Es ist eine Tragödie, dass unsere Kinder mit solchen Ängsten aufwachsen müssen. Sie kennen Bewachung durch Polizei und unsere eigenen Sicherheitskräfte, sie kennen Überwachungskameras, Zäune und Panzerglas, wir müssen ihnen beibringen, wie sie sich in Gefahrensituationen im Kindergarten oder in der Schule zu verhalten haben, aber die Gefahr bleibt dennoch für sie abstrakt. Die Gefahr bleibt immer so etwas wie ein Spiel, eine Phantasie in der kindlichen Vorstellungswelt. Halle hat die Bedrohung wie eine Verfilmung der Märchen der Gebrüder Grimm dem Reich der Fantasie unserer Kinder entrissen. Und dies schmerzt und macht wütend.

Halle war weder der Anfang noch – so befürchte ich – wird es das Ende sein. Rechter Terrorismus hat auch nicht mit den NSU-Morden oder dem Mord an Walter Lübcke begonnen. Die Bedrohung von Juden, Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes in der Mitte der Gesellschaft, war nie verschwunden, ebenso wenig wie der Antisemitismus und der Hass, bis hin zu körperlicher Gewalt gegen religiöse, sexuelle oder ethnische Minderheiten. Die Pogrome auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 und die Anschläge und Ermordeten von Mölln im November 1992, der Wehrhahn--Anschlag in Düsseldorf im Juli 2000, die NSU-Morde, alleine 1800 Straftaten im Jahre 2018, die in einem Zusammenhang mit Hasskriminalität gegen Juden stehen. Wir sehen seit Jahren, dass eine geschichtsrevisionistische, menschenverachtende und demokratiefeindliche Partei wie die AfD von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilt – durch bewusste Zweideutigkeiten und offene Toleranz gegenüber Rechtsextremen, Antisemiten und rechtem Gedankengut. Mit der AfD ist Hetze gegen Minderheiten in den Parlamenten der Bundesrepublik angekommen, eine Verrohung der Sprache und die Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas, die unmittelbar zu dem Täter und den Taten von Halle führen. Alice Weidel, Alexander Gauland und Jörg Meuthen: Schämen Sie sich dafür und schämen Sie sich für Halle, den Weg dahin haben auch Sie bereitet.

"'Wir wussten von nichts' darf für Deutschland nicht mehr gelten."

Wer kann daher bei den Ereignissen von Halle so tun, als habe er von nichts gewusst, als hätte Halle die Augen für die Bedrohungslage jüdischen Lebens und das anderer Minderheiten erst geöffnet. "Wir wussten von nichts" darf für Deutschland nicht mehr gelten. Es möge auch niemand mehr so tun, als sei der Hass gegen Juden nur ein importiertes Schreckgespenst von einem anderen Planeten oder Kontinent. Der Attentäter von Halle ist 1992 in der Bundesrepublik geboren und hier aufgewachsen.

Trauer nach dem Anschlag in Halle. Foto: imago/photothek

Der Anschlag in Halle ist nicht nur eine Schande für dieses Land, wie es der Bundesinnenminister formuliert hat, er ist auch eine Schande für die Politik, für unsere Bildungseinrichtungen, für Verfassungsschutz, die Polizei, die gesellschaftlich relevanten Organisationen und für jeden Einzelnen von uns. Denn jeder Einzelne ist verantwortlich für unsere Gesellschaft und das gesellschaftliche Klima, in dem Hass wächst und Täter heranwachsen. Täter haben Freunde, eine Familie und auch der Täter von Halle – ein Holocaust-Leugner – hat eine Schule besucht, in der er hätte lernen müssen, dass die Shoa, die Ermordung von sechs Millionen Juden, geschichtliche Wahrheit ist. Was bleibt sind Fragen über Fragen: Warum hat niemand erkannt, dass sich ein in der Bundeswehr an Waffen ausgebildeter junger Mann derart ideologisch radikalisiert? Warum wurden seine hasserfüllten Worte nicht ernst genommen?

Wo bleibt die Sensibilisierung innerhalb der Gesellschaft? Wo bleibt das Einschreiten der "Anständigen"? Wo ist die Zivilcourage, für die doch eigentlich kein Mut notwendig sein dürfte, weil sie selbstverständlich sein sollte?

Halle hat sofort die Frage der Sicherheit der jüdischen Gemeinden in Deutschland aufgeworfen. Und es ist richtig, wenn Halle mit der Verstärkung des Schutzes durch die Polizei für jüdische Einrichtungen beantwortet wird. Und es ist richtig, wenn Halle die Frage aufwirft, warum jüdische Gemeinden mit erheblichen eigenen finanziellen Mitteln für ihren eigenen Schutz und den ihrer Mitglieder aufkommen müssen.
 
Aber wir dürfen nicht Halt machen bei der Erhöhung von Sicherheitsvorkehrungen durch personelle und sicherheitstechnische Aufrüstung. Ein sicheres jüdisches Leben in Deutschland darf nicht von Technik abhängig sein. Der beste Schutz für jüdische Gemeinden, für Juden in der Bundesrepublik ist die Bekämpfung von Antisemitismus – und auch das muss an dieser Stelle gesagt werden: Von JEDER Art des Antisemitismus, aus welcher Ecke er auch kommen mag! Die Erhöhung von Sicherheitsvorkehrungen darf nur das Ziel haben, die Zeit zu erkaufen, um den Hass in den Köpfen der Menschen, um Vorurteile, Antisemitismus und Menschenverachtung zu bekämpfen und zu beseitigen. Denn der beste Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ist eine offene, eine plurale, eine demokratische Gesellschaft, in der alle aufstehen gegen Antisemitismus und Hass gegen den Anderen oder das Andere. In der jeder Einzelne im Alltag einschreitet gegen Unrecht, Vorurteile und die Herabwürdigung von Menschen. Diese Verantwortung muss die Gesellschaft und jeder Einzelne erkennen.

"Es ist unser Recht, konkretes Handeln einzufordern"

Die Politik und die Politikerinnen und Politiker müssen jenseits von bestimmt wohlgemeinten Kippa-Veranstaltungen und plattitüdenhaften Worten konkrete Konzepte im Kampf gegen das, wofür Halle steht, entwickeln und umsetzen. Wieso wird zum Beispiel nicht ernsthaft darüber nachgedacht, jedem Schüler und Jugendlichen die authentischen Orte der Shoa zu zeigen, wenn wir wissen, dass es noch immer Menschen gibt, die unser Bildungssystem durchlaufen haben und die Shoa leugnen. Es ist längst Zeit und nicht erst seit Halle berechtigt und unser Recht, endlich konkretes Handeln einzufordern. Wir müssen vor allem in Bildung und Aufklärung investieren, wir müssen dafür sorgen, dass der soziale Frieden in unserem Land gewahrt bleibt, wir müssen dafür sorgen, dass wir Werte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischen Systems definieren und durchsetzen. Wir müssen diejenigen, die aus rechten oder generell radikalen Milieus aussteigen wollen, unterstützen. Und da wo Bildung, Aufklärung und die Bereitschaft der Gesellschaft zur zweiten Chance nicht mehr helfen, da müssen wir die vorhandenen Instrumente unserer Verfassung und des Rechtsstaates der wehrhaften Demokratie vollumfänglich einsetzen.

Unsere Rechtspolitiker müssen darüber nachdenken, ob Strafe das einzige Mittel zur Bekämpfung von Hass und Rechtsextremismus sein kann. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Minderheiten in diesem Land ein lebendiges, ein selbstbewusstes und selbstdefiniertes Leben führen können – denn Minderheiten sichtbar zu machen, ist der Beweis und das Bekenntnis zu ihnen und zu einer pluralen Gesellschaft.

"Die Antworten müssen von der Mehrheitsgesellschaft kommen"

Wir, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und in Frankfurt, sind bereit, diesen Weg mitzugehen und mitzugestalten. Denn dies ist unser Land, es ist für die ganz überwiegende Zahl unserer Mitglieder ihre Heimat, ihr Zuhause. Die jüdische Gemeinschaft ist ein vitaler und integraler Teil der Gesellschaft. Aber die Antworten müssen von der Mehrheitsgesellschaft kommen und denjenigen, die dieses Land führen. Und dies ist ihre Pflicht, die wir einfordern. Halle darf nicht nach dem Abflauen des ersten Schocks und der unmittelbaren Betroffenheit ein weiteres geschichtliches Ereignis in der Chronik der Bundesrepublik werden. Halle muss der Beginn eines ernsthaften und nicht nur symbolhaften Umdenkens werden.

Wir, die jüdische Gemeinschaft, werden uns trotz der Ereignisse von Halle weder einschüchtern oder verängstigen lassen, noch uns hinter erhöhten Mauern oder Sicherheitsschleusen verstecken. Wir wollen, dass Judentum und jüdisches Leben nicht nur im Zusammenhang mit Gewalt, Hass oder Ausgrenzung steht. Wir wollen, dass Judentum, dass jüdische Kultur lebendig, positiv und als Bereicherung wahrgenommen wird, und wir werden unser Judentum selbstbewusst weiterhin leben. Es geht dabei um jeden Einzelnen – und um unsere Gesellschaft im Ganzen.

Dieser Text ist erschienen im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2020, das Sie hier anschauen können.

Weitere Informationen

Marc Grünbaum
Foto: Jüdische Gemeinde Frankfurt

Marc Grünbaum ist Rechtsanwalt und wurde 1970 geboren. Er ist Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und zudem Dezernent für Kultur, die frühkindliche Erziehung (Krabbelstube, Kindergärten und Hort), das Jugendzentrum "Amichai" sowie für Jugend und junge Erwachsene.

Kontakt: mailto@jg-ffm.de