Dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht tatenlos zusehen

Rettungseinsatz der Organisation Sea-Eye.
Dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht tatenlos zusehen
Die Seenotrettungsorganisation Sea-Eye: ein Rück- und Ausblick
Ursula Putz

Herbst 2015: Seit Monaten nimmt der Strom von Menschen, die auf der Balkanroute von Ost nach West unterwegs sind, kein Ende. Ausgelöst durch Kriegshandlungen in Syrien haben sich Tausende auf den Weg gemacht, um vor Tod und Elend zu fliehen. Tausende von Menschen sind zu Fuß unterwegs. Während die einen vom Balkan aus starten, versuchen andere von Libyen aus mit Booten über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. 2015 ist ein Jahr gewaltiger Fluchtbewegungen. In Regensburg finden sich im Herbst des Jahres Menschen zusammen, die das Sterben auf dem Mittelmeer nicht mehr mitansehen wollen. Sie gründen den Verein Sea-Eye. Sein Ziel ist das Auffinden von Personen in Seenot und deren Rettung. Von privater Hand wird ein Fischkutter erworben, die SEA-EYE. In der Werft in Rostock von freiwilligen Helfern umgerüstet, wird das Schiff Ende Februar 2016 von Rostock nach Licata (Sizilien) überführt.

2016: Die Seenotrettung mit der SEA EYE beginnt

Acht Menschen finden sich auf der SEA-EYE zusammen. Menschen aus allen Lebens- und Berufsbereichen, die ehrenamtlich und in ihrer Freizeit aktiv sind, geeint vom Ziel, Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu bewahren.  Ausgangspunkt für Einsätze der SEA-EYE ist Malta, dort wird ein Camp für die Mitglieder angemietet, um alle 14 Tage einen schnellen Wechsel der Schiffsmannschaft zu gewährleisten. Jeden Tag machen sich Hunderte von Menschen von Libyen aus auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Ausbeutung und Verelendung. Die Menschen werden nur noch im Besitz ihrer Kleider und ohne Schuhe in seeuntauglichen Booten auf das offene Meer geschickt, in der Hoffnung, Europa zu erreichen. In einem Schlauchboot befinden sich bis zu 150 Menschen, eng zusammengepfercht, zum Teil verletzt, unter menschenunwürdigen Umständen. Viele sind traumatisiert. Hoch ist die Zahl sowohl von schwangeren Frauen wie auch von Familien mit kleinen Kindern.

Rettungseinsatz der Organisation SEA-EYE auf dem Mittelmeer.
Rettungseinsatz der Organisation SEA-EYE auf dem Mittelmeer.
Rettungseinsatz der Organisation SEA-EYE auf dem Mittelmeer.
Rettungseinsatz der Organisation SEA-EYE auf dem Mittelmeer.
Demonstration von Aktivist*innen von SEA-EYE.

Sobald ein vom Kentern bedrohtes Boot von der Mannschaft der SEA-EYE gesichtet wird, wird sofort ein Notruf an die Rettungsleitstelle in Rom abgesetzt. In der Zwischenzeit werden die Menschen von der SEA-EYE mit Schwimmwesten und Wasser versorgt, Verletzte werden an Bord in der Krankenstation behandelt, bevor sie einem geeigneten Schiff übergeben werden.

Die Bedingungen verschlechtern sich

Waren die ersten Monate des Jahres 2016 noch davon geprägt, dass nach einiger Zeit Unterstützung entweder durch die europäische Marine wie auch durch die italienische Küstenwache oder durch andere Nichtregierungsorganisationen (NGO) geleistet wurde, etwa Sea-Watch (mit dem Schiff Sea-Watch), Jugend Rettet (Iuventa) oder Ärzte ohne Grenzen (Vos Prudence), ändert sich dies im Laufe des Jahres. Es ist das Jahr mit der höchsten Todesrate auf der Route über das zentrale Mittelmeer. Ein Jahr, das auch den Mitgliedern von Sea-Eye alles abverlangt, jedoch von Erfolg gekrönt ist. Von April bis November 2016 werden insgesamt 5568 Menschen in 12 Einsätzen erstversorgt.

Im Herbst 2016 jedoch verschlechtern sich zusehends die "Bedingungen" der Seenotretter: Die SPEEDY, ein erst kürzlich erworbenes Schnellboot des Vereins, wird von der libyschen Küstenwache beschlagnahmt, zwei Crewmitglieder werden vier Tage lang in Libyen festgesetzt.

2017: Die SEEFUCHS wird in den Einsatz übernommen – Der Druck auf NGO steigt

Da eine Unterstützung auf See weitgehend ausbleibt und vermehrt Menschen an Bord des Schiffes aufgenommen werden müssen, erwirbt der Verein Sea-Eye im Frühjahr 2017 das Schiff SEEFUCHS. So können ab Mai bis November 2017 bei 13 Einsätzen 1703 Personen gerettet werden, während mit der SEA-EYE eine Versorgung von insgesamt 6303 Menschen zu verzeichnen ist. In den Jahren 2016 und 2017 wurden insgesamt 13.574 Menschen vom Verein Sea-Eye aus einer lebensbedrohlichen Situation gerettet.

Das Jahr 2017 bringt politische Veränderungen mit sich: Im Februar strengt der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro eine gerichtliche Untersuchung gegen Nichtregierungsorganisationen wegen des Verdachts der Schlepperei an. Humanitäre NGO würden durch Such- und Rettungsoperationen vor der libyschen Küste einen Anreiz für Menschenschmuggler bieten. Im Sommer 2017 fordert Italien einen "Verhaltenskodex" für NGO, während die sogenannte libysche Küstenwache von der EU finanziell unterstützt wird, ihr Hoheitsgebiet auf eine 74 Seemeilen breite "Such- und Rettungsregion" bis weit in internationales Gewässer ausweitet und sogar mit Waffengewalt gegen NGO vorgeht.

Der Druck auf die Nichtregierungsorganisationen steigt, gerichtliche Anhörungen stehen an. Immer wieder fällt der Begriff "Pull-Faktor" im Zusammenhang mit maritimen Such- und Rettungsaktionen. Damit wird behauptet, dass die Präsenz von zivilen Seenotrettern auf dem Mittelmeer mehr Menschen dazu bringt, sich in Boote zu setzen. Es ist von einer richtiggehenden "Flüchtlingskrise" im Mittelmeer die Rede. Mittlerweile wurde durch eine Studie der italienischen Migrationsforscher Eugenio Cusumano und Matteo Villa vom "European University Insitute" in Florenz belegt, dass es diesen Zusammenhang nicht gibt.

2018: SEA-EYE und SEEFUCHS an der Kette, neues Rettungsschiff im Einsatz

Im Sommer 2018 beenden etliche nicht staatliche Rettungsschiffe ihr Engagement im Mittelmeer, einige Schiffe von Nichtregierungsorganisationen sind vom italienischen Staat an die Kette gelegt worden. Die SEA-EYE und die SEEFUCHS werden auf Druck des damaligen Innenministers Matteo Salvini vorerst festgesetzt. Während die SEEFUCHS im März 2019 an die spanische Organisation ProemAid verschenkt werden kann, wird im Juni 2019 die SEA-EYE nach Hamburg überführt, wo sie seitdem unter dem Namen THINKBOAT als Dokumentationsschiff für Flucht und Rettung dient.
Im Herbst 2018 wird das ehemalige Forschungsschiff PROFESSOR ALBRECHT PENCK in Stralsund von Sea-Eye erworben und ab Dezember 2018 als Rettungsschiff im Mittelmeer betrieben, nunmehr als erstes Schiff einer NGO unter deutscher Flagge. Am 10. Februar 2019 tauft Abdullah Kurdi, der Vater des 2015 an der türkischen Mittelmeerküste ertrunkenen dreijährigen Alan Kurdi, das Schiff im Hafen von Palma de Mallorca auf den Namen seines Sohnes. Seitdem wurden mit der ALAN KURDI 688 Menschen vor dem Ertrinken gerettet (Stand Ende April 2020).

Den Skandal thematisieren – auch im Rahmen der IKW

Die Pflicht des Vereins Sea-Eye ist es, nicht tatenlos dem Sterben auf dem Mittelmeer zuzusehen. Er ist eine Antwort auf die gescheiterte Migrationspolitik der Europäischen Union, die sich ihrer Verantwortung für die Tausenden Todesfälle in direkter Nähe entzieht. Mit der ALAN KURDI wird eine Lücke in der Seenotrettung auf dem Mittelmeer geschlossen, denn die europäischen Staaten haben sich aus dieser Aufgabe zurückgezogen. Dieser Skandal kann im Rahmen der Interkulturellen Woche durch vielfältige Aktionsformen thematisiert werden, auch in Zeiten von Kontaktbeschränkungen. So kann Sea-Eye etwa Referenten vermitteln, die von ihren Einsätzen berichten. Auch in der Rubrik Good Practice auf der der IKW-Homepage sind Ideen für Veranstaltungen zum Thema Flucht zu finden.

Wer Sea-Eye unterstützen möchte, kann Schiffspate der ALAN KURDI werden. Der Verein ist außerdem immer auf der Suche nach qualifizierten und motivierten Crewmitgliedern für die ALAN KURDI, zu Wasser und an Land. Weitere Informationen gibt es hier.

Spendenkonto:
Sea-Eye e.V.
IBAN: DE60 7509 0000 0000 0798 98
BIC: GENODEF1R01

Weitere Informationen

Dr. Ursula Putz
Foto: Sea-Eye e.V..

Dr. phil. habil. Ursula Putz ist Prähistorikerin und Reiseleiterin und seit Oktober 2015 ehrenamtliches Mitglied von Sea-Eye e.V. Sie nahm im Februar 2016 bei Werftarbeiten für die SEA-EYE in Rostock sowie an Überführungsfahrten der SEA-EYE teil. 2016 war sie dreimal bei Rettungseinsätzen vor der libyschen Küste als Kommunikatorin und Deckhand an Bord der SEA-EYE (Versorgung von über 1000 Menschen). Von November 2016 bis März 2018 unterstützte sie den Gründer von Sea-Eye, Michael Buschheuer, in der gemeinsamen Vereins- und Einsatzarbeit. Seit Dezember 2019 arbeitet sie als Ehrenamtsmanagerin für Sea-Eye.

Kontakt: ursula.putz@sea-eye.de