Angeworben: Mein Vater Ibrahim und der rote Traktor

Viele Gastarbeiter der ersten Generation lebten in beengten Verhältnissen, wie hier 1968 in Düsseldorf.
Angeworben: Mein Vater Ibrahim und der rote Traktor
Ab 1961 kamen systematisch Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Deutschland – ihre Geschichten und die ihrer Kinder kommen in der deutschen Erinnerungskultur bisher kaum vor
Dr. Çiçek Bacık

Meinem Vater Ibrahim gelang es, kurz vor dem Anwerbestopp im Jahr 1973 nach Deutschland zu kommen, nachdem er sich mit Gelegenheitsjobs in Istanbul durchgeschlagen hatte. Viele Gast­ar­bei­ter*innen kamen mit großen Hoffnungen auf ein besseres Leben nach Deutschland, andere trieb die Aben­teuerlust hierher. Vorher mussten sie sich in den Anwerbebüros – wie Vieh – einer Gesundheitsprüfung unterziehen. Kerngesund mussten sie sein, um einen Fahrschein zu ergattern. In den Anwerbebüros wurde kaum über die Rahmenbedingungen der Industriearbeit informiert. Die Gast­arbeiter*innen arbeiteten im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, in der Eisen- und Metallindustrie und im Bergbau.

Nicht nur Männer wurden für die deutsche Industrie angeworben, sondern auch gezielt Frauen. Insgesamt waren über ein Drittel der Gastarbeiter*innen Frauen. In den 1960er Jahren war der westdeutsche Arbeitsmarkt stärker als heute nach Geschlecht sortiert. Es wurden so auch, dringend, Frauen gebraucht. Sie wurden für die Textil- und Nahrungsmittelindustrie, aber auch für Arbeitsplätze in der Elektrotechnik und in der Metallindustrie angeworben. Berufe, die oft extrem gesundheitsschädigend waren. Frauen waren besonders begehrt, weil sie noch weniger Lohn erhielten als männliche »Gastarbeiter«. Damals war der Anteil der arbeitenden Migrantinnen, gemessen am Anteil weiß-deutscher Frauen, um 50 Prozent höher. »Gastarbeiterinnen« arbeiteten, anders als die meisten weiß-deutschen Frauen, zudem in Vollzeit.

UNWÜRDIGE LEBENSBEDINGUNGEN

Während Menschen aus Spanien, Italien und Griechenland in bilateralen Abkommen von Beginn an die Familienzusammenführung ermöglicht wurde, wurde beispielsweise Türk*innen dieses Recht in den Anfangsjahren vorent­halten. So wie die heutigen osteuropäischen Werkvertragsnehmer*innen in der Schlachtindustrie, lebten auch die Gastarbeiter*innen unter unwürdigen Lebensbedingungen, wurden ausgebeutet und über langfristige Auswirkungen ihrer Arbeit auf ihre Gesundheit nicht informiert. Kerngesund kamen sie nach Deutschland, arbeiteten mit großem Eifer und in der Hoffnung, schnell Geld zu sparen und nach einigen Jahren in die Heimat zurückzukehren.

Auch mein Vater träumte davon. Er wollte einen roten Traktor kaufen und in sein Dorf, zu seiner Familie zurück­kehren. Er arbeitete 40 bis 45 Stunden wöchentlich und hatte kaum Freizeit. In den ersten Jahren arbeitete er im Straßenbau im badischen Bruchsal. Auch unter extremen Witterungsbedingungen arbeitete er hart und fuhr in einem Bauwagen von einer Baustelle zur anderen. Seine einzigen Freunde waren ein paar Arbeitskollegen. Als er eines Tages zufällig an einem Bahnhof in Karlsruhe Ahmet aus seinem Dorf traf, war die Freude groß. Zu Deutschen hatte I·brahim kaum Kontakt. Eines Tages quetschte er beim Arbeiten seinen Finger ein, so dass der Finger anfing zu bluten. Als er seinen deutschen Vor­arbeiter darüber informierte, lachte ihn dieser aus und fordert ihn auf, seine Arbeit fortzusetzen. Enttäuscht wandte sich mein Vater von diesem Betrieb ab und fand mit Hilfe eines Landsmanns eine Arbeit bei Siemens in West-Berlin.

Auch andere Gastarbeiter*innen erlitten Arbeitsunfälle, die sich in der Chemie- oder Stahlindustrie und in den Bergwerken ereigneten. Bei den meisten Unfällen klemmten sie sich die Finger oder Arme ein, oder es fielen Gegenstände auf sie. Eine besondere Schwierigkeit stellte die Arbeit in den Bergwerken dar, in 1000 Metern Tiefe, bei 38 Grad Hitze. Ein Großteil der Arbeiter, die in ihren Heimatländern als Hirte oder Bauer tätig gewesen waren, litt unter großen psychischen Problemen und Ängsten. Als große Belastung empfanden sie und ihre Familien den zunehmenden Rassismus in Deutschland. Viele kehrten dem Land deshalb tatsächlich den Rücken und gingen in ihre Heimatländer zurück.

Gastarbeiterinnen aus der Türkei kommen im Oktober 1965 am Münchner Hauptbahnhof an. Foto: Stadtarchiv München, Archiv Rudi Dix

Die Rückkehrpolitik wurde staatlich gesteuert: 1983 beschloss die schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl eine Rückkehrprämie in Höhe von 10.500 Mark für arbeitslos gewordene Türk*innen. So wollte man »unbrauchbar« gewordene Menschen loswerden. Doch meinem Vater gelang die Rückkehr aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Entwicklungen in seinem Heimat­­land nicht. Stattdessen holte er 1980 seine Frau und die vier Kinder nach West-Berlin. Seinen geliebten roten Traktor, den er Ende der 1970er erworben hatte, verkaufte er schweren Herzens an einen Landsmann, nachdem er mehrere Jahre im Garten seines Bruders in Istanbul gestanden hatte.

ZWEI JAHRE IN DER »AUSLÄNDERKLASSE«

In Berlin besuchten mein älterer Bruder und ich zwei Jahre lang eine Ausländerklasse in einem Arbeiterviertel in der Spandauer Neustadt. Wir hatten keinen Kontakt zu Deutschen in diesen separierten Klassen, sodass wir nur schleppend Deutsch lernten.

In den ersten fünf Jahren durfte meine Mutter nicht arbeiten. Sie konnte nicht lesen und schreiben. Fünf Jahre später setzte ich mich für meine Mutter ein und fand für sie einen Job als Reinigungskraft bei der Firma Bosse. Mir war es wichtig, dass meine Mutter ein Stück Unabhängigkeit von ihrem Ehemann erreicht.

Mein Vater arbeitete im Schichtdienst, meine Mutter hatte im Laufe der Zeit mehrere Putzjobs gefunden. In den Betrieben, in denen meine Eltern arbeiteten, herrschte oft schlechte Stimmung. Der Schichtdienst und die Akkordarbeit in der Waschmaschinenabteilung bei Siemens schlauchte meinen Vater. Auch meine Mutter hatte viel auf sich geladen. Denn sie war auch für die Erziehung der Kinder und den Haushalt verantwortlich.

Genauso erging es zahlreichen anderen Gastarbeiterkindern. Die Eltern schufteten, um den Lebensunterhalt zu ver­dienen, sprachen kaum genug Deutsch, um ihre eigenen Rechte und die ihrer Kinder im Bildungssystem durchzusetzen. Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen machten viele Kinder aber auch auf der Straße.

"Die Perspektive unserer Eltern und unsere Perspektiven sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur."

Warum erzähle ich all diese Geschichten? 2015 habe ich das Literaturkollektiv »Daughters and Sons of Gastarbeiters« gegründet. Die Perspektive unserer Eltern und unsere Perspektiven sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur, der bisher nicht vorkommt bzw. kaum ausreichend Raum im deutschen Narrativ einnimmt. Der wachsende Rassismus spaltet unsere Gesellschaft. NSU, Hanau, Rostock, Mölln, Solingen haben sich in unsere Köpfe gebrannt. Die Trauer und die Wut sind groß, aber auch der Wunsch nach Verständigung.

Mit Hilfe autobiographischer Geschichten versuchen wir, eine unmittelbare Nähe zwischen Autor*innen, Texten, Protagonist*innen und Publikum herzustellen. Die Autor*innen erzählen von ihren Eltern oder Großeltern, von sich und ihren Kindern. Es geht um echte Menschen und ihre wahren Geschichten. Die Autor*innen zeigen durch ihre gelebten und erzählten Geschichten, wie sich strukturelle Diskriminierung in vielen Lebensbereichen und in sehr feinen Nuancen zeigt und auswirkt – Arbeitsbedingungen, Bildung, Sprache, innerfamiliäre und Identitätskonflikte usw., aber auch Liebe, erlebte Unterstützung und Strategien des Umgangs damit.

Viele Dinge, die die Autor*innen oder ihre (Groß-) Eltern erlebt haben, sind außerhalb ihrer Communitys nicht bekannt. Sie kommen weder im öffentlichen Raum noch in Schulen, Museen oder Bibliotheken vor. Im Fernsehen kommt »Migration« vor, wenn es um Probleme mit »Integration«, »Kriminalität« oder »Zurückgebliebenheit« geht. Durch die autobiografischen Geschichten werden demgegenüber reale Geschichten ausgeleuchtet und nachvollziehbar gemacht. Es entsteht eine Sensibilisierung, die übertragen werden kann auf die heutige Situation von Geflüchteten, Neu-Zugewanderten und Nachfahren der ersten Generationen. In den Gesprächen nach den Lesungen versuchen wir immer wieder, diese Parallelen herzustellen.

"Was damals falsch gemacht wurde, kann heute vermieden oder verbessert werden."

Was damals falsch gemacht wurde, kann heute vermieden oder verbessert werden. Was damals gut gelaufen ist, kann heute wiederholt werden. Jede*r kann etwas dazu beitragen, im Privaten wie im öffentlichen, kulturellen und politischen Raum. Wir regen dazu an, über den eigenen Möglichkeitsraum nachzudenken und nötige Veränderungen zu einer antirassistischen, demokratischen und auf Gleichberechtigung basierenden Einwanderungsgesellschaft mitzugestalten.

Die Lesungen fördern die Akzeptanz der gesellschaftlichen Vielfalt in Deutschland und die Erzeugung von Empathie für unterschiedliche Biographien. Gleichzeitig wird der Abbau von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Einwanderungsgeschichte durch Kontakt- und Gesprächsmöglichkeiten gefördert.

Nicht zuletzt werden aber auch Kinder und Kindeskinder der »Gastarbeits«-Generationen ermutigt, sich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen, die Familiengeschichte ins Verhältnis zur deutschen Geschichte zu setzen – und auch selbst für eine gerechte Repräsentation von »uns« einzutreten. Denn nur, wer in der sicht- und hörbaren Erzählung von Geschichte vorkommt, wer in den Institutionen und Lehrplänen, im Fernsehen, in den Archiven und Parlamenten vorkommt – und zwar als selbstverständlicher Teil dieses Landes –, hat dieselben Chancen wie alle anderen auch.

Die Autor*innen von »Daughters & Sons of Gastarbeiters« können für Lesungen im Rahmen der Interkulturellen Woche angefragt werden.

Weitere Informationen: www.gastarbeiters.de.

Dieser Text ist zuerst erschienen im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2021, das HIER heruntergeladen werden kann.

Weitere Informationen

Dr. Cicek Bacik
Foto: Neda Navaee

Dr. Çiçek Bacık ist Philologin und Politikwissenschaftlerin. 2015 gründete sie das Autor*innenkollektiv "Daughters and Sons of Gastarbeiters". Sie arbeitet als Grundschullehrerin in Berlin-Kreuzberg.

Kontakt: kontakt@gastarbeiters.de