Quelle: Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Die Opferberatungsstellen im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) haben ihre Bilanzen zum Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitisch motivierter Gewalt im Jahr 2022 veröffentlicht. In zehn von 16 Bundesländern wurden insgesamt 2.093 rechte, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe registriert. Mehr als die Hälfte aller Angriffe ist rassistisch motiviert. Trans- und queerfeindliche Angriffe nehmen zu und forderten ein Todesopfer. Täglich werden mindestens fünf Menschen Opfer rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalt. Die Beratungsstellen stellen außerdem erneut eine gravierende Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden fest.
"Eine vielerorts unerträgliche Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus belasten den Alltag sehr vieler Menschen."
Robert Kusche vom Vorstand des VBRG
"Der Anstieg rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Jahr 2022 ist vor dem Hintergrund der pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2022 besonders gravierend. Rassistische Mobilisierungen gegen Geflüchtete in Ostdeutschland, Brandanschläge auf Unterkünfte sowie eine vielerorts unerträgliche Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus belasten den Alltag sehr vieler Menschen", sagt Robert Kusche vom Vorstand des VBRG e.V. Dabei müssen die Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden stärker in den Fokus genommen werden. "Allzu oft werden insbesondere rassistische Motive von Ermittlungsbehörden und auch von Gerichten nicht als solche erkannt oder nicht berücksichtigt", kritisiert Dr. Doris Liebscher, Juristin und Leiterin der Ombudsstelle für das Berliner Antidiskriminierungsgesetz. "Es fehlen flächendeckend Rassismus-Beauftragte bei Polizei und Justiz." "Rassistisch motivierte Angriffe gegen Kinder und Jugendliche haben sich innerhalb von einem Jahr verdoppelt und beeinflussen den Alltag der betroffenen Familien massiv", sagt Sultana Sediqi von "Jugendliche ohne Grenzen" aus Thüringen. "Allzu oft fühlen sich die Familien von den Institutionen des Rechtsstaats im Stich gelassen."
Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Beratungsstellen haben für das Jahr 2022 einen Anstieg rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten in den ostdeutschen Bundesländern, Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein dokumentiert. Trotz Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Pandemie bis zum Frühjahr 2022 wurden 2.093 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe mit 2.871 Betroffenen registriert. Dabei hat sich die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr auf 520 Angegriffene nahezu verdoppelt (2021: 288). Besorgniserregend ist sowohl der Anstieg von mehr als 15 Prozent bei rechten Gewalttaten (2022: 1340; 2021: 1151) – insbesondere Körperverletzungsdelikten – als auch eine Verdreifachung der Nötigungen und Bedrohungen insbesondere aus rassistischen und antisemitischen Motiven (2022: 653; 2021: 197).
Damit wurden in mehr als der Hälfte aller Bundesländer im Jahr 2022 täglich mindestens fünf Menschen Opfer rechter Angriffe. Rassismus war auch 2022 – wie schon in den Vorjahren – das häufigste Tatmotiv. Mehr als die Hälfte aller Angriffe (1088 Fälle) waren rassistisch motiviert und richteten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen und Schwarze Deutsche. Immer wieder verschwiegen Ermittlungsbehörden Rassismus als Tatmotiv, etwa bei einer schweren Brandstiftung im Keller eines Mehrfamilienhauses in der Nacht vom 9./10. Oktober 2022 in Berlin-Lichtenberg. Rassismus als Tatmotiv wurde erst Wochen später durch Nennung des Brandanschlags in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu Angriffen gegen Geflüchtete (Drs. 20/5773) und durch Kontaktaufnahme der Bewohner*innen des Hauses mit der Berliner Opferberatungsstelle ReachOut bekannt.
Sehr hoher Anstieg bei antisemitisch motivierten Angriffen und Verdoppelung von trans- und queerfeindlich motivierter Gewalt
Besonders Besorgnis erregend ist, dass die Anzahl antisemitisch motivierter Angriffe im Vergleich zum Vorjahr um das Vierfache gestiegen ist (2022: 204; 2021: 54) und auf Bedrohungen innerhalb sehr kurzer Zeit schweren Gewalttaten folgen, wie etwa in Brachwitz (Saalekreis/Sachsen-Anhalt). In dem Dorf wurde ein 52-Jähriger im Sommer 2022 über Wochen von seinem Nachbarn massiv antisemitisch bedroht. Kurz darauf folgten zwei antisemitisch motivierte Brandanschläge auf das Auto und ein Nebengebäude des Wohnhauses des Angegriffenen durch den mittlerweile in erster Instanz verurteilten Nachbarn.
Die Anzahl der von den Opferberatungsstellen registrierten trans- und queerfeindlichen Angriffe hat sich im Vergleich zum Vorjahr auf 174 verdoppelt und forderte ein Todesopfer. Malte C. starb am 02. September 2022, als er bei einem queerfeindlich motivierten Angriff beim CSD-Münster intervenierte und dabei tödliche Verletzungen erlitt. Ebenfalls im Vergleich zu den Vorjahren angestiegen ist die Anzahl von Angriffen gegen sogenannte politische Gegner*innen (387 Fälle). Unter den Betroffenen sind auch 84 Journalist*innen (2021: 51), die von Anhänger*innen der Coronaleugner- und anderer Verschwörungsideologien als "Lügenpresse" diffamiert, bedroht und angegriffen wurden.
Expert*innen kritisieren Kompetenzlücken bei der Strafverfolgung von rassistisch motivierten Gewalttaten durch Polizei und Justiz
"Allzu oft wird Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt selbst die Schuld oder eine Mitverantwortung an einem Angriff zugeschrieben", stellt Dr. Doris Liebscher, Juristin und Leiterin der Ombudsstelle zum Berliner Antidiskriminierungsgesetz fest. "Hinzu kommt, dass insbesondere rassistische Motive von Ermittlungsbehörden und auch von Gerichten nicht als solche erkannt oder nicht berücksichtigt werden." Während in Berlin und in anderen Bundesländern inzwischen bei Polizei und Staatsanwaltschaften Beauftragte für Antisemitismus und in Berlin auch für Hasskriminalität gegen LSBTI zu Sensibilisierung in den Behörden beigetragen haben und Fortschritte bei der Strafverfolgung und Erkennung verzeichnet werden konnten, "besteht beim Thema Rassismus eine große Lücke", betont Dr. Doris Liebscher. "Es fehlen flächendeckend Rassismus-Beauftragte bei Polizei und Justiz."
Bei vielen Angegriffenen führten Täter-Opfer-Umkehr und "die mangelnde Rassismuskompetenz bei Polizist*innen und Justiz dazu, dass ihr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat fundamental erschüttert wird", betont die Juristin. Dies zeige sich beispielsweise im Fall des rassistischen Angriffs auf die Schülerin Dilan S. im Februar 2022 in Berlin. Die junge Frau hatte in einer Berliner Straßenbahn Zivilcourage gezeigt und eine Gruppe Erwachsener aus dem rechten Hooliganspektrum aufgefordert eine Maske zu tragen. Daraufhin wurde die damals 17-Jährige rassistisch und misogyn beleidigt, angegriffen und verletzt. Die rassistische Täter-Opfer-Umkehr der Angreifer wurde in den ersten Polizei-Pressemitteilungen übernommen; die Schülerin als Maskenverweigerin dargestellt, die den Angriff selbst zu verantworten hätte. Erst ihre auf Instagram veröffentlichte Richtigstellung aus dem Krankenhaus führte dazu, dass gegen die Täter*innen ermittelt wurde. Auf eine Entschuldigung der Polizei wartet die junge Frau bis heute vergebens. "Auch im Strafprozess gegen die Angreifer*innen am Amtsgericht Tiergarten wiederholte sich dann die Relativierung der Tat", kritisiert Dr. Doris Liebscher. 2Die Richterin ging nicht angemessen auf das rechte Umfeld und einschlägige Vorstrafen der Angeklagten ein, sie stellte den Angriff von sechs Erwachsenen auf eine 17-jährige Frau als ‚berlintypische‘ Auseinandersetzung dar und bewertete die psychologischen Folgen des rassistischen Angriffs nicht als strafschärfend."
"Rassistisch motivierte Angriffe gegen Kinder und Jugendliche haben sich innerhalb von einem Jahr verdoppelt und beeinflussen den Alltag der betroffenen Familien massiv", sagt Sultana Sediqi von "Jugendliche ohne Grenzen" aus Thüringen. "Allzu oft fühlen sich die Familien von den Institutionen des Rechtsstaats im Stich gelassen." Insbesondere rassistische Bedrohungen, Diskriminierungen und Gewalt im Wohnumfeld und an Schulen führen zu massiven Einschränkungen und Belastungen im Alltag der betroffenen Familien. "Die von den Opferberatungsstellen registrierten Angriffe stellen nur die Spitze des Eisberges dar", betont Sultana Sediqi. "Hinzu kommen rassistische Diskriminierungen durch Behörden, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt – das führt zu einer ständig präsenten Angst und Ohnmacht."
Gefahr der Entpolitisierung und Untererfassung politisch rechts motivierter Gewalt
Die bedrohliche Zunahme von Angriffen gegen Journalist*innen und politische Gegner*innen, die Auswirkungen rechter Angriffe durch AfD-Kommunalpolitiker*innen sowie die zunehmende Verbreitung von Waffen und Tag-X-Terrorplänen in den rechten Bewegungen der Reichsbürger*innen, Coronaleugner*innen und Anhänger*innen von Verschwörungsideologien haben sich weiter verschärft. Die Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus und Verschwörungsnarrativen zeigt sich auch in der Verdreifachung der Anzahl der von den Opferberatungsstellen registrierten Bedrohungen und Nötigungen (2022: 653; 2021: 197). In Cottbus (Brandenburg) beispielsweise lauerten am 22. November 2022 zwei mit Messern bewaffnete Männer einem Cottbusser Studierenden spät abends am Parkplatz eines Supermarktes auf und bedrohten, und verfolgten ihn. Der Studierende erstattet Anzeige bei der Polizei und gibt Rassismus als einzig für ihn erklärliches Tatmotiv an.
Anstieg rechter Gewalt in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern
Die Entwicklung ist in den Bundesländern uneinheitlich. In zwei ostdeutschen Bundesländern – Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern – sind rechte und rassistische Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr erheblich gestiegen. Gemessen an der Einwohner*innenzahl wurden im unabhängigen Monitoring der Opferberatungsstellen die meisten rechten Gewalttaten[1] in Berlin (7,9 pro 100.000 Einwohner*innen), Sachsen-Anhalt (6,3 pro 100.000 Einwohner*innen), Thüringen (5,9 pro 100.000 Einwohner*innen), Mecklenburg-Vorpommern (5,5 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und Hamburg (5,4 pro 100.000 Einwohner*innen) registriert. In Brandenburg (4,5 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und Sachsen (3,8 pro 100.000 Einwohner*innen) blieb die Anzahl der Gewalttaten auf unverändert hohem Niveau. Wie schon in den Vorjahren ist die Zahl erfasster rechter Gewalttaten in westdeutschen Flächenländern wie Schleswig-Holstein (2,3 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (1,3 pro 100.000 Einwohner*innen) und Baden-Württemberg (0,4 pro 100.000 Einwohner*innen) im Vergleich zu Ostdeutschland und Berlin geringer.
Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden wächst und behindert wirksame Gegenmaßnahmen
Auch für 2022 gehen die Opferberatungsstellen von einer hohen Anzahl nicht registrierter rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten sowie von einer eklatanten Untererfassung von rassistischen, antisemitischen und rechten Tatmotivationen durch Polizei und Justiz aus. "Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt. Dies zeigt sich insbesondere auch bei der Verortung von Gewalttaten durch Anhänger*innen von Verschwörungsideologien und der Coronaleugner-Bewegung in der polizeilichen Kategorie ,PMK nicht zuzuordnen/verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates'", sagt Robert Kusche und resümiert: "Die nach wie vor mangel- und lückenhafte Erfassung und Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive durch Polizei und Justiz verschleiert das Ausmaß der Bedrohung und Dimensionen rechter Gewalt und lässt die Betroffenen im Stich."
[1] Um die Vergleichbarkeit zur "PMK Rechts/Hasskriminalität Gewalttaten" des BMI/BKA zu gewährleisten, werden hier nur die Gewaltdelikte im Sinne der PMK aufgeführt: Vollendete/versuchte Tötungsdelikte, sowie schwere, gefährliche, einfach Körperverletzungsdelikte und Brandstiftungsdelikte.