Quelle: PRO ASYL / Flüchtlingsrat Niedersachsen
Gemeinsame Presseerklärung von PRO ASYL und Flüchtlingsrat Niedersachsen
Die Situation in Belarus ist für schutzsuchende Menschen weiterhin unerträglich. Den Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL erreichen immer mehr Hilferufe von verzweifelten Angehörigen aus Deutschland, deren Verwandte in Belarus feststecken. Wir stellen zwei Einzelfälle vor.
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern eine sofortige Aufnahme der Schutzsuchenden, die in Belarus gestrandet sind. Da der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu retten. Es braucht jetzt umgehend eine politische Lösung, noch vor Weihnachten.
"An den Grenzen Europas wird europäisches Recht gebrochen."
"Wir erwarten, dass Kanzler Scholz die Leisetreterei und die Politik der stillschweigenden Tolerierung der Aussetzung des Rechtsstaates an den EU-Grenzen beendet", fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen zu schützen und entschlossen für sie einzutreten – das muss sie nun umgehend tun.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel dokumentiert in seiner neuesten Ausgabe das Leben und den Tod von 17 Geflüchteten an der EU-Grenze zu Belarus. "An den Grenzen Europas wird europäisches Recht gebrochen. Es ist nicht verständlich, warum Europa die Menschen im Wald verhungern und erfrieren lässt, anstatt sie aufzunehmen. Würde Deutschland sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklären, so wäre Lukaschenkos Druckmittel demontiert", kommentiert Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.
Rechtswidrige Abschiebungen werden zur Realität
Nachdem Lukaschenko finanzielle Unterstützung für Belarus forderte, kündigte die EU an, 700.000 Euro für humanitäre Hilfe zu gewähren. Zusätzlich sollen 3,5 Millionen Euro für die Rückreise der gestrandeten Menschen über die Uno-Hilfsorganisationen bereitstellt werden. Dieses als "Rückreise" beschriebene Prozedere beschreibt faktisch die von Europa finanzierte Abschiebung in die Heimatländer – rechtswidrige Abschiebungen in die Kriegs- und Krisengebiete, wie Syrien oder dem Irak werden somit zur Realität.
Eine besondere Verantwortung sieht Burkhardt für alle Schutzsuchenden, bei denen besondere Beziehungen zu Deutschland bestehen, zum Beispiel aufgrund familiärer Bezüge. "Dieser Gesichtspunkt ist bisher in der Politik überhaupt nicht wahrgenommen worden", sagt er. Dem Flüchtlingsrat Niedersachsen liegen hierzu zwei konkrete Einzelfälle vor.
Fall 1: 71-jähriger Syrer wird Zeuge vom Tod seiner Begleiterin
Mustafa B.* ist Ende September nach Belarus eingereist. In seinem Heimatland Syrien droht ihm Haft. Sein Sohn lebt in Lüneburg. Der 71-jährige ist, wie so viele, als politischer Flüchtling mit einem Touristenvisum nach Belarus gereist. Man sagte ihm, von dort werde er leicht nach Europa weiterreisen können.
Bereits wenige Tage nach seiner Einreise fand er sich gemeinsam mit einer syrischen Frau und einem jüngeren syrischen Mann, die er beide auf der Flucht kennenlernte, in der polnisch-belarussischen militärischen Grenzzone mitten im Wald wieder. Die polnischen Grenzbeamten drängten die Schutzsuchenden in die Hände der belarussischen Grenzschützer, die dann wiederum die Schutzsuchenden an der Rückreise nach Belarus hinderten. Die belarussische Armee rief ihnen zu: "Entweder gehen Sie nach Polen oder Sie werden im Wald sterben."
Die Frau, mit der Mustafa reiste, war stark entkräftet. Von Tag zu Tag baute sie weiter ab. Als Mustafa und der mitreisende Syrer nach medizinischer Nothilfe für die Frau bei den belarussischen Sicherheitskräften fragten, wurden sie erniedrigt, ausgelacht und gewaltsam zurückgedrängt. Schließlich starb die Frau aufgrund der verweigerten medizinischen Notversorgung und Einsperrung im Grenzgebiet.
Im Zuge des Abtransports der verstorbenen Frau gelangte Mustafa wieder nach Minsk. Nach den schweren und traumatischen Erlebnissen sitzt er dort nun fest und wartet darauf, dass die Bundesregierung ihm die Möglichkeit gibt, zu seinem Sohn nach Niedersachsen zu ziehen. Seine Habseligkeiten und Dokumente verlor er im Chaos im Wald. Sein gesundheitlicher Zustand ist mittlerweile sehr kritisch.
Fall 2: 57-jährige Frau mit Alzheimer ist in Lagerhalle eingesperrt
Wassila A.* musste bereits mehrfach innerhalb Syriens flüchten, und als sich schließlich die Gelegenheit bot, nach Belarus zu gelangen, ergriff sie diese Chance. Man sagte ihr, sie könne von Minsk aus nach Deutschland weiterreisen, um zu ihren in Deutschland lebenden zwei Kindern zu kommen. Wassila leidet an Alzheimer-Demenz, einer unheilbaren Störung des Gehirns. Sie ist zunehmend vergesslich, verwirrt und orientierungslos und ist in einer der für gestrandete Geflüchtete errichteten Lagerhalle mit circa zweitausend weiteren Schutzsuchenden in Belarus eingesperrt.
Sie ist nach ihrer Nierentransplantation lebenslang auf Medikamente und regelmäßige Untersuchungen angewiesen, ohne die sie nicht überleben würde. Die Versorgung in der Lagerhalle ist jedoch katastrophal. Die belarussischen Sicherheitskräfte fuhren sie zu einem Krankenhaus, in dem ihr Medikamente für lediglich 20 Tage gegeben wurden. Ob sie ein zweites Mal Medikamente bekommen wird, wurde ihr bisher nicht bestätigt. Vielmehr wird ihr von den Sicherheitskräften ein Transport zurück zu der polnisch-belarussischen Grenzzone angeboten, wo tausende von Menschen im Wald in der Kälte ausharren in der Hoffnung, in der EU Schutz zu finden.
Der volljährige Sohn und die volljährige Tochter von Wassila leben bereits seit mehreren Jahren in Deutschland und sind die wichtigsten - und einzigen! - Bezugspersonen, die sie durch die Alzheimer-Demenz-Zeit begleiten können. Nun machen sie sich große Sorgen, ob ihre Mutter die notwendigen Medikamente erhält - denn jeder weitere Tag in dieser Lagerhalle ist mit einem großen Risiko verbunden und könnte sie das Leben kosten.
Zusätzlich droht das belarussische Personal in der Lagerhalle den Schutzsuchenden, dass sie entweder abgeschoben oder ins Grenzgebiet gebracht würden. Die Menschen werden so gezielt in Panik versetzt.
Menschenverachtendes Ping-Pong-Spiel auf dem Rücken Schutzsuchender
In den letzten Wochen hat die EU keine ernsthaften Schritte unternommen, um dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte an der Grenze gewahrt werden. Die belarussische Regierung lässt die schutzsuchenden Menschen, darunter Familien mit Kindern und alte Menschen, auf die polnische Seite der Grenze bringen und sie im Grenzgebiet unter lebensgefährlichen Temperaturen im Wald ausharren - für manche mit tödlichem Ende. Die belarussischen Grenzschützer treiben die Schutzsuchenden auf die polnische Seite der Grenze, wo sie von polnischen Grenzschützern wiederum zurückgetrieben werden – "ein menschenverachtendes Ping-Pong-Spiel", kommentiert Günter Burkhardt diese Praxis.
Während die EU weitere Sanktionen für Belarus diskutiert, nutzt Lukaschenko Geflüchtete als politisches Druckmittel gegenüber der Europäischen Union. Die polnische Regierung reagiert mit illegalen Pushbacks und wendet massive Gewalt an, um die Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Rechtsstaatliche Verfahren werden ihnen verweigert. "Was vor wenigen Jahren noch Fantasien einer Minderheit rechter Akteur*innen waren, ist Realität geworden", sagt Aigün Hirsch. Dennoch lässt der öffentliche Aufschrei auf sich warten. Im Gegenteil – viele europäische Politiker*innen loben den polnischen Grenzschutz; Europa werde verteidigt. Auch der neue Bundeskanzler Olaf Scholz hat Polen Solidarität zugesichert.
Die neue Bundesregierung muss klar Partei ergreifen für die schutzsuchenden Menschen
Suggeriert wird, es wäre eine Katastrophe, wenn einige tausend Menschen nach Europa einreisen würden. Geflüchtete werden zu einer Bedrohung gemacht.
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern die neue Bundesregierung auf, klar Partei zu ergreifen für die schutzsuchenden Menschen und die Rechtsstaatlichkeit. Die Ampel-Koalition darf die Verantwortung Polens an den menschenverachtenden und rechtswidrigen Praktiken nicht länger kleinreden, sondern muss umgehend eine politische Lösung finden, die den Zielen des Koalitionsvertrags Rechnung trägt.
(* Namen wurden geändert)
Weiterführende Informationen:
Spiegel-Bericht vom 17.12.2021: 17 Menschen starben an der polnischen Grenze – das sind ihre Geschichten.
PRO ASYL, 02.12.2021: »Sonder-Asylrecht« für osteuropäische Grenzstaaten sowie Interview mit der polnischen Anwältin Marta Górczyńska: "Eine Politik, die Menschen einfach sterben lässt".
Flüchtlingsrat Niedersachsen, 03.12.2021: Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarates zu kroatischen Pushbacks.