ZUSAMMEN LEBEN, ZUSAMMEN WACHSEN.
Die Coronavirus-Pandemie hat unseren Alltag und das Leben von Menschen weltweit in drastischer Weise verändert. Die unmittelbaren Auswirkungen der Ausbreitung des Virus und entsprechende Schutzmaßnahmen stellen uns alle vor große Herausforderungen. Sie erfordern ständig neue, sorgsame Überlegungen und Entscheidungen, die unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen werden müssen. Dabei wird uns deutlich, wie lebensnotwendig eine solidarische Grundhaltung in unserer Gesellschaft ist. Auch die Planungen zur diesjährigen Interkulturellen Woche sind von vielen Unwägbarkeiten betroffen. Wir möchten dazu ermutigen, kreativ nach Möglichkeiten und Formaten zu suchen, wie unser Motto "Zusammen leben, zusammen wachsen." umgesetzt werden kann, um damit gerade in schwieriger Zeit ein starkes Zeichen der Gemeinsamkeit zu setzen.
Vor siebzig Jahren hat der Europarat die Europäische Menschenrechtskonvention beschlossen. Sie beruht auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948, deren Inhalte damit völkerrechtlich bindend wurden. Damals bekräftigten die unterzeichnenden Staaten Europas ihren "tiefen Glauben an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung … und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrundeliegenden Menschenrechte gesichert werden", wie es in der Einleitung heißt.
Waren es im Jahr 1950 zunächst 14 Staaten, die die Konvention unterzeichneten, so haben inzwischen alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarates diesen Schritt getan. Das ist eine Erfolgsgeschichte! Und doch zeigt sich bis heute, dass die kompromisslose Orientierung an den Menschenrechten und Grundfreiheiten im weiten Raum Europas keineswegs immer selbstverständlich ist. Auch in der Europäischen Union und selbst in Deutschland steht das politische Handeln vor der bleibenden Herausforderung, immer neu Maß zu nehmen an der Würde jedes einzelnen Menschen.
Nicht hinnehmbar ist es vor diesem Hintergrund, dass der Flüchtlingsschutz in Europa derzeit vielerorts ausgehöhlt wird, ja, dass Schutzsuchende auf europäischem Boden monatelang in Elend gehalten werden. Immer wieder scheint in Vergessenheit zu geraten, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten für jeden Menschen gelten – unabhängig von seiner Herkunft. Deshalb ist es ein Skandal, wenn Menschen, die sich für die Rechte Geflüchteter und die Menschenrechte einsetzen, diffamiert, bedroht und angegriffen werden. Erst vor wenigen Jahren hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. Sie wurde damit für ihren Beitrag zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa gewürdigt. Heute aber umgibt sie sich mit neuen Mauern und Zäunen und richtet Lager an ihren Außengrenzen ein. Die dortigen Zustände sind mit der Achtung der Menschenwürde nicht vereinbar. Menschenrechte kennen keine Grenzen! Sie gelten auch für Flüchtlinge und Schutzsuchende in Europa, an dessen Rändern und vor den Toren unseres Kontinents.
Weil wir glauben, dass Gott jeden einzelnen Menschen aus Liebe ins Leben gerufen und ihm eine bedingungslose Würde geschenkt hat, müssen wir dort hinsehen, wo die Menschenwürde eingeschränkt und verletzt wird: In den Flüchtlingslagern in der Ägäis, auf der Balkanroute, auf dem Mittelmeer, in Syrien, in den Wüsten Afrikas – an so vielen Orten schreit das Elend zum Himmel. Wir erinnern daran, dass es Orte wie diese waren, wohin Gottes Sohn gegangen ist, um mit seinem Leben einzustehen für andere, damit sie leben können. Jesus Christus hat den Weg gesucht zu den Verachteten, zu den Ärmsten der Armen, zu denen am Rande der Gesellschaft, zu den Kranken, den Verfolgten, zu denen, die niemand mehr sehen will, die der Öffentlichkeit entzogen werden.
Die Schwächsten und die Kleinsten, die Kinder, hat Jesus in die Mitte geholt: "Und er rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie: Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf" (Mt 18,1.5). Es ist beschämend, wie schwer sich die Staaten Europas damit tun, schutzsuchende, kranke Kinder aufzunehmen und Familienzusammenführungen zu ermöglichen, und dies umso mehr, wenn ein Rechtsanspruch auf Familieneinheit besteht. Angesichts der durch das Corona-Virus hervorgerufenen Pandemie brauchen besonders die Schutzlosesten unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung, deshalb dürfen wir die Flüchtlinge in den überfüllten Lagern nicht noch länger weiteren Gefahren aussetzen.
Zu den Menschen an der Grenze ist Jesus gegangen, genau dorthin hat er Heil und Heilung gebracht: Wo es kalt und nass, wo es dreckig und lebensgefährlich ist, dort war und ist er solidarisch. Er nimmt das Elend auf sich, sitzt mit im Schlamm. Diesen Ort, draußen vor dem Tor, wählt er aus, um sich selbst zum Opfer zu geben – für diese zerrissene Welt. Dies ist der Ort, wo Gottes Heiligkeit aufleuchtet. "Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebr 13,12-14).
Jede und jeder Einzelne von uns ist eingeladen, Jesus zu folgen und mit ihm zu gehen. Es ist nicht leicht, sich an diese Orte zu begeben und genau hinzuschauen. Und es fordert uns heraus, Leid, Not und Schmach der Menschen an uns heranzulassen.
Wir sind denjenigen dankbar, die sich tatkräftig für die Rettung und den Schutz von Menschen einsetzen, die vor Elend und Krieg, vor Gewalt und Klimakatastrophen auf der Flucht sind. Wir begegnen diesem Engagement in unseren Kirchen, in Verbänden, bei der Arbeit, in der Nachbarschaft. Mehr als 140 Städte haben als "Sichere Häfen" ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen erklärt. Damit zeigen sie sich solidarisch und bieten Zuflucht. Dass sich Unzählige in unserem Land, mitunter trotz Anfeindungen und Bedrohungen, nicht beirren lassen, demokratische Werte zu verteidigen und sich generationenübergreifend für Mitmenschlichkeit einzusetzen – das zeigt, wie stark unsere Gesellschaft ist.
Bei aller Unterschiedlichkeit, die unser Land auszeichnet: Wir brauchen einander, und wir tragen gemeinsam Verantwortung für unsere Zukunft. Nach den brutalen Morden im Februar dieses Jahres in Hanau hat der Bundespräsident diese Notwendigkeit zum Zusammenhalt unterstrichen: "Wir stehen zusammen. Wir halten zusammen. Wir wollen zusammen leben." Wo Menschen nicht als Nachbarinnen und Nachbarn, als Mitbürger wahrgenommen, sondern als "fremd" markiert werden, wo Menschen mit Migrationsgeschichte, die längst zur vielbeschworenen "Mitte der Gesellschaft" gehören, immer noch in Frage gestellt werden, da ist es höchste Zeit, dass wir unsere Stimme erheben und uns unmissverständlich für Respekt und Nächstenliebe, für Frieden und eine gemeinsame Zukunft einsetzen: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebr 13,14). Gemeinsam sind wir unterwegs auf der Suche nach der neuen Stadt, die uns durch Jesu Opfer verheißen ist: die Wohnstätte, die allen Menschen gehört, in der alle zuhause sind.
Unsere Aufgabe als Gesellschaft ist es, auf der gemeinsamen Grundlage demokratischer Werte unterschiedliche Interessen in den Dialog zu bringen und immer wieder auszuhandeln, wie wir leben wollen. Dazu braucht es die Bereitschaft, Vielfalt auszuhalten, damit Teilhabe gestaltet werden kann. Wir selbst müssen anders und neu werden und dürfen dies nicht nur von anderen erwarten. Wenn Gott uns das zutraut und aufträgt, dann schenkt er uns auch die Kraft dazu. Die Interkulturelle Woche kann mit kreativen Formen zeigen, dass wir gemeinsam wachsen können, auch unter schwierigen Bedingungen. Wir danken den Veranstalterinnen und Veranstaltern der über das ganze Land verteilten Initiativen und Aktionen, die einen ungeheuren Reichtum unserer Kultur repräsentieren. Und wir danken für den Mut, die Zuversicht und das beharrliche Einstehen vieler Menschen für Demokratie und Zusammenhalt. Nutzen Sie die Chancen, die die Interkulturelle Woche bietet, und seien Sie herzlich willkommen!
Bischof Dr. Georg Bätzing
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Metropolit Dr. h.c. Augoustinos von Deutschland
Vorsitzender der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland