Foroutan: "Es braucht eine postmigrantische Partei"

Foroutan: "Es braucht eine postmigrantische Partei"

Quelle: Mediendienst Integration (Creative Commons Lizenz)

Die Themen Migration und Teilhabe finden sich kaum in den Wahlprogrammen der meisten Parteien. Es sei Zeit für eine neue, postmigrantische Partei, sagt Migrationsforscherin Naika Foroutan im Interview mit dem Mediendienst Integration. Außerdem erklärt sie, wie warum eine solche Partei Maximalforderungen stellen sollte und wie sie sich inhaltlich aufstellen müsste, um erfolgreich zu sein.

MEDIENDIENST: Frau Foroutan, welche Rolle spielen die Themen Migration und Integration im aktuellen Wahlkampf?
Naika Foroutan: Praktisch keine. Schauen Sie in die Wahlprogramme der Parteien: Das Thema Migration ist inzwischen fast verschwunden. Die Parteien denken offenbar, dass es keine große Bedeutung in der kommenden Legislaturperiode haben wird, weil die Einwanderungs- und Asylzahlen im Verhältnis zur letzten Bundestagswahl stark nach unten gegangen sind. Dabei verkennen sie, dass Migration neben Klima und Digitalisierung das zentrale Thema des kommenden Jahrzehnts bleiben wird. Wenn das Thema doch angesprochen wird, geht es meistens um Sicherheit, Abwehr oder Regulierung – nicht um ein plurales Miteinander, das auf die Teilhabe der Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund setzt. Im aktuellen Wahlkampf wird vielmehr deutlich, dass keine Partei Migrant*innen und ihre Nachkommen aktiv anspricht.

"Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte werden als Randgruppe behandelt, um deren Stimmen zu kämpfen es sich nicht lohne."

Warum interessieren sich die Parteien so wenig für das Thema?
Parteien, die proaktiv mit dem Thema Migration für sich werben, verlieren dabei in der Regel Wähler*innenstimmen. Die einzigen Parteien, die es für Wahlzwecke nutzen können, sind die, die ganz klar gegen Einwanderung sind. Es ist also nicht verwunderlich, dass die meisten Parteien das Thema nur nebenbei erwähnen. Ob aus Wahltaktik oder Desinteresse, das Ergebnis ist das Gleiche: Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte werden als Randgruppe behandelt, um deren Stimmen zu kämpfen es sich nicht lohne. Dabei umfasst die Gruppe der Wähler*innen mit einem sogenannten Migrationshintergrund über zehn Prozent der gesamten Wählerschaft und könnte damit von großer Bedeutung für das Wahlergebnis sein. Und die Bedeutung dieser Bevölkerungsgruppe wird noch wachsen: Bei den Wähler*innen von morgen, bei Jugendlichen und Schulkindern, machen sie bereits rund 40 Prozent aus. Es braucht eine neue postmigrantische Partei, die diese Menschen direkt anspricht.

Naika Foroutan
Naika Foroutan bei der bundesweiten Vorbereitungstagung zur Interkulturellen Woche 2019 in Berlin. Foto: ÖVA/Nils Bornemann

Wähler*innen mit Migrationshintergrund sind allerdings keine homogene Gruppe. Wie könnte eine einzige Partei die Interessen von EU-Arbeitsmigrant*innen, Geflüchteten, Spätaussiedler*innen und ehemaligen Gastarbeiter*innen und die der späteren Generationen vertreten?
Klar haben diese Menschen unterschiedliche Bedarfe. Sie sind keineswegs eine homogene Gruppe – ihre Schicht, Berufe, Religion oder politischen Positionen sind teilweise sehr unterschiedlich. Sie haben aber auch viel gemeinsam: Der Werdegang ihrer Kinder ist bewiesenermaßen steiniger als der von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Viele von ihnen haben – unabhängig von ihrer Herkunft – Formen von Diskriminierung erlebt. Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte sind zudem viel zu selten an politischen Entscheidungen beteiligt: Bei der letzten Bundestagswahl hatten lediglich acht Prozent der Abgeordneten einen sogenannten Migrationshintergrund. In der Gesamtbevölkerung sind es mehr als 26 Prozent der Menschen. Es geht hier um Interessenvertretung – nicht um Homogenisierung. Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der die dänische Minderheit im Norden vertritt, wird auch nicht davon ausgehen, dass all seine Wähler*innen die gleichen Interessen haben.

„Eine neue Partei könnte die etablierten Parteien dazu motivieren, Migrant*innen als Wählerschaft endlich stärker wahrzunehmen und sie auch aktiv zu umwerben.“

Bildungschancen, Diskriminierung, politische Teilhabe – das wären also Themen für die Partei. Was noch?
Abgesehen von diesen Themen könnte die Partei vor allem eine taktische Rolle spielen.

Inwiefern?
Eine neue Partei könnte die etablierten Parteien dazu motivieren, Migrant*innen als Wählerschaft endlich stärker wahrzunehmen und sie auch aktiv zu umwerben. Nur eine Partei, die auf das Thema Migration ihren Schwerpunkt legt und eine offensive Interessenvertretung und Identitätspolitik vertritt, kann Migration ins Zentrum politischer Debatten rücken.

Was meinen Sie mit "offensive Identitätspolitik"?
Ich verstehe Identitätspolitik als Gleichheitspolitik. Es geht nicht nur darum anzuerkennen, dass es Gruppen in der Gesellschaft gibt, die stark benachteiligt sind. Sondern auch darum, hier aktiv Chancengerechtigkeit und Teilhabe herzustellen. Um diese Ungleichheit zu überwinden, muss man die benachteiligten Gruppen auch aktivieren und mobilisieren. Und das erreicht man am besten, indem man diese Gruppen bei ihren Biographien, Erfahrungen und Identitäten anspricht.

„Wenn die Gleichheitsfrage für Migrant*innen und ihre Nachkommen verhandelt wird, ist diese nicht isoliert zu betrachten, sondern sie betrifft auch andere Bereiche.“

Denken Sie nicht, dass eine derartige "offensive Identitätspolitik" noch mehr Konflikte schüren wird?
Rechtspopulisten haben es geschafft, durch ihre Maximalforderungen nach mehr Sicherheit und Ordnung die politische Mitte in zehn Jahren immer mehr nach rechts zu verschieben. Der Ton hat sich im Alltag verfestigt. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, Maximalforderungen auch von der anderen Seite des politischen Spektrums zu formulieren – und damit für einen Ausgleich in der Mitte zu sorgen.

Haben Sie keine Sorge, dass der Konflikt mit anderen Parteien dadurch eskalieren könnte?
Eine Eskalation gab es schon. Der feindselige Ton, den die AfD bei den Flucht-Debatten eingeschlagen hat, die Hetze gegen Politiker*innen und Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen, das alles gibt es schon. Denken Sie mal an den Hass, der Angela Merkel teilweise entgegenschlägt. Die Polarisierung ist schon da, dafür braucht es keine Migrant*innen-Partei.

Wenn sich Menschen mit Einwanderungsgeschichte als Partei organisieren – heißt das nicht, dass sie in Konflikt mit der Mehrheitsgesellschaft treten?
Nein. Ungleichheit und Diskriminierung sind Themen, die nicht nur Personen mit Einwanderungsgeschichte bewegen. Und übrigens: Nicht nur Personen mit Migrationshintergrund fühlen sich von diesen Fragen angesprochen. Auch ihre Freunde, Partnerinnen, Nachbarn oder Berufskolleginnen sind schon lange in die migrantische Frage involviert und wären dementsprechend auch potenzielle Wähler*innen. Es sollte also eine Partei sein, die attraktiv für all diejenigen ist, die sich aus unterschiedlichen Gründen ausgeschlossen und marginalisiert fühlen und sich alliieren wollen, um mehr Kraft zu haben: People of Colour, sozial benachteiligte Personen, Mitglieder der LGBTQ+-Community und eben ihre politischen und affektiven Partner in der Gesellschaft. Wenn die Gleichheitsfrage für Migrant*innen und ihre Nachkommen verhandelt wird, ist diese nicht isoliert zu betrachten, sondern sie betrifft auch andere Bereiche.

„Es gibt eine breite ansprechbare Wähler*innenschaft, die Pluralität und Diversität akzeptiert.“

Ausgerechnet in diesem Punkt haben die wenigen Migrant*innen-Parteien, die es bis jetzt in Europa gab, ihre Schwäche gezeigt. Sowohl die niederländische "Denk"-Partei als auch das "Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit" (BIG) geben sich nicht gerade LGBTQ+-freundlich, die BIG ist mit homophoben Aussagen aufgefallen.
Beide Parteien, die Sie genannt haben, sind leider tatsächlich keine Vorbilder. Obwohl sie sich als Bannerträger einer toleranten und solidarischen Gesellschaft präsentiert haben, sind sie relativ schnell zu einem Sprachrohr eines engstirnigen türkischen Nationalismus geworden. Eine neue Partei sollte sich nicht an alten Herkunftsländern orientieren. Eine neue Partei sollte die Fragen, die sich im 21. Jahrhundert rund um Pluralität und offene Gesellschaften stellen, aktiver und nach vorne gerichtet diskutieren. Ein Drittel der Menschen in diesem Land haben Angst vor jeder Form von Pluralität – auch vor Essens-, Sprachen- oder Geschlechterpluralität – das haben wir in einer Umfrage am DeZIM gemessen. Das heißt aber auch: Es gibt eine breite ansprechbare Wähler*innenschaft, die Pluralität und Diversität akzeptiert. Deshalb würde ich nicht von einer „Migrant*innen-Partei“ sprechen. Es sollte eher eine postmigrantische Partei werden, die dezidiert anti-rassistisch, anti-sexistisch und anti-klassistisch ist und diese Perspektiven mit den großen Themen unserer Zeit wie Klima- und soziale Gerechtigkeit verwebt – denn sie hängen eng zusammen und das merken immer mehr Menschen.

Interview: Fabio Ghelli

Zur Person
Prof. Dr. Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Gründungsvorstand des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) e.V. und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin.