Erinnerungen teilen: "Das ist auch meine Geschichte"

Rosaria Chirico bei einer Lesung.
Erinnerungen teilen: "Das ist auch meine Geschichte"
"Daughters and Sons of Gastarbeiters" teilen ihre Erinnerungen

Sie folgten ihren Eltern aus den Dörfern Anatoliens, Südeuropas, des Balkans nach Deutschland oder kamen in einem Arbeiterviertel der Bundesrepublik zur Welt. Ihre Väter und Mütter sollten in  Deutschland als "Gastarbeiter" den Wirtschaftsaufschwung beflügeln. Ihre Erzählungen sind ein wichtiger Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihre Erinnerungen und Erfahrungen teilen sie seit 2015 mit jedem, der sie hören will: die "Daughters and Sons of Gastarbeiters".

"Ich habe die Idee jahrelang mit mir herumgetragen", sagt Çiçek Bacik, eine der Gründerinnen der Initiative. Sie hat als Teenager viel Tagebuch geschrieben, und Jahre später entdeckte sie die Texte wieder. Eines Abends saß sie mit der Journalistin Ferda Ataman in Berlin nach einer Lesung zusammen, und sie beschlossen: "Wir müssen unsere Geschichten erzählen!" Das war die Geburtsstunde der "Daughters and Sons of Gastarbeiters".

Bacik und Ataman fragten in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis herum, und schnell waren einige Mitstreiter gefunden. Die erste Lesung fand im "Wasserturm" in Berlin-Kreuzberg statt, es kamen Freunde, Bekannte und Familienmitglieder der Autoren – und es war voll. "Rund 150 Leute in einem Raum für 70 Personen", erinnert sich Bacik an die gelungene Premiere. Schon damals erlebte sie Reaktionen, wie sie noch häufiger bei Lesungen kommen sollten. Andere Gastarbeiterkinder kamen auf sie zu und sagten: "Das, was Ihr da erzählt, ist auch meine Geschichte, das habe ich auch so erlebt." So ergriffen sind Besucher manchmal, dass auch Tränen fließen.

"Es ist unglaublich wichtig, unsere Perspektive in die Diskussion einfließen zu lassen, gerade in einer Zeit, in der in öffentlichen Debatten ethnische und religiöse Hintergründe eine immer größere Rolle spielen", sagt Bacik. Die Lesungen der "Daughters and Sons…" richten so den Blick auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Migrationserfahrung – auch auf die ihrer Eltern. So wie bei Bacik etwa, die in Almus in der türkischen Schwarzmeer-Region geboren wurde und später mit ihren Eltern nach Deutschland kam. Um ihre Geschichte aufzuschreiben, sprach sie zum ersten Mal ausführlich mit ihrem Vater über dessen Erfahrungen in Deutschland, wo er unter anderem im Straßenbau tätig war.

 

Blick ins Familienalbum von Eva Andrade
Das Titelbild der "Daughters an Sons of Gastarbeiters"
Illustration von Shlomit Tulgan
Rosaria Chirico bei einer Lesung.

Mittlerweile sind es über 30 Gastarbeiterkinder, die bei der Initiative mitmachen. Aus den Gastarbeiterkindern von einst, die ursprünglich alle zurück in die Heimat ihrer Eltern sollten, sind Lehrer, Journalisten, Juristinnen, Architektinnen, Bildungsmanagerinnen oder Künstler geworden. Sie arbeiten in allen Berufsbranchen, engagieren sich politisch und gestalten die Gesellschaft in Deutschland mit. Zu einer Lesung kommen immer vier bis fünf Autor*innen. Sie tragen ihre Texte vor (jeder einzelne soll nicht länger als 15 Minuten dauern), dazu werden Bilder auf eine Leinwand geworfen, oft aus dem Familienalbum der Protagonisten. Es gibt etwas Musik und zum Schluss die Möglichkeit zu Diskussion und Austausch.

"So eine persönliche Geschichte kann viel mehr berühren als ein Vortrag mit erhobenem Zeigefinger", meint Rosaria Chirico, die seit zwei Jahren dabei ist. Sie wurde in Düsseldorf geboren, ihre Eltern kamen 1966 aus einem kleinen Dorf in Apulien in Süditalien nach Deutschland. Sie hat die "Daughters and Sons…" bei einer Lesung kennengelernt und war sofort Feuer und Flamme. "Ich hatte vorher bereits einen Text geschrieben, und habe ihn dann gleich an Çiçek Bacik geschickt." Seitdem ist sie dabei – und immer wieder selbst erstaunt, wie bekannt ihr manche Geschichten vorkommen, die andere Autor*innen der Initiative vortragen. "Das gibt ein schönes Gefühl, dass man etwas gemeinsam hat", sagt Chirico.

Gemeinsam haben die "Daughters and Sons …" auch etwas mit den allermeisten Veranstaltungen der Interkulturellen Woche. Denn Bacik sagt: "Wir wollen Empathie herstellen und Nähe und Möglichkeiten der Begegnung – gerade heutzutage, wo die Spaltung in der Gesellschaft immer größer wird."