Kommunen dürfen eine Menge

Kinder aus einer geflüchteten Familie aus Syrien freuen sich 2016 über ihr neues Zimmer in ihrer Unterkunft in Röhrsdorf bei Chemnitz.
Kommunen dürfen eine Menge
Wie Städte und Gemeinden ihren Handlungsspielraum bei der Flüchtlingspolitik nutzen können
Hannes Schammann

Können Kommunen eine aktive Flüchtlingspolitik betreiben? Noch vor ein paar Jahren hätten die meisten Praktiker*innen und Forscher*innen wahrscheinlich müde gelächelt und darauf verwiesen, dass Flüchtlingspolitik Sache des Bundes und maximal der Länder sei. Doch die Erfahrungen der letzten Jahre haben diese Sichtweise gründlich geändert. Städte, Kreise und Gemeinden haben gelernt, dass sie innerhalb kürzester Zeit auch größere Zahlen an Menschen unterbringen können. Sie haben erfahren, dass Verwaltung und Zivilgesellschaft effektiv zusammenarbeiten können. Und sie haben gelernt, wo ihre flüchtlingspolitischen Handlungsspielräume liegen – und wie sie sich ausdehnen lassen.

Drei Typen kommunaler Aufgaben

Ungeachtet bundeslandtypischer Besonderheiten lassen sich die Aufgaben der Kommune grundsätzlich in drei Typen unterscheiden: Bei den sogenannten weisungsgebundenen Pflichtaufgaben werden Aufgabeninhalt und -durchführung detailliert durch das Land vorgegeben. Ein Ermessensspielraum ist eigentlich nicht vorgesehen, da die Ministerien des Landes das »Ob« und »Wie« der Aufgabenerfüllung grundsätzlich im Detail steuern können. Bei den Pflichtaufgaben der Selbstverwaltung besteht eine Verpflichtung zum kommunalen Handeln. Zusätzlich sind Zielrichtung und Umsetzung der Maßnahmen durch Landesgesetze oder Verordnungen vorgegeben. Allerdings sind Eingriffe in die Umsetzung durch Ministerien eher selten. Den größten Gestaltungsspielraum haben Kommunen im Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben. Hier kann lokale Politik entscheiden, ob sie überhaupt tätig wird und wie sie dabei vorgeht. Die Landesministerien wachen lediglich über die Einhaltung bestehender Gesetze.

Aufenthaltsrecht, Unterbringung und Sozialleistungen

Eine Pflichtaufgabe der Kommunen ist der Vollzug des Aufenthaltsrechts. Beispielsweise stellen kommunale Ausländerbehörden nach Ablehnung eines Asylantrags fest, ob Abschiebungshindernisse vorliegen und für wie lange ggf. eine Duldung, also die Aussetzung einer Abschiebung, ausgestellt werden kann. Sie entscheiden auch darüber, ob Asylsuchende ihrer Mitwirkungspflicht, zum Beispiel bei der Passbeschaffung, nachgekommen sind. Erkennen sie hier Versäumnisse, kann etwa der Zugang zu Arbeit, Ausbildung oder Studium versagt werden. Die Sachbearbeitenden in Ausländerbehörden gehen dabei mit zahlreichen Ermessensspielräumen und unbestimmten Rechtsbegriffen um. Dies hat zur Folge, dass das Aufenthaltsrecht teilweise – überspitzt ausgedrückt – vor Ort neu geschrieben wird.

Bücher Ausländerrecht
Foto: Steffen Blatt

Forschungen zur Abschiebungspraxis in deutschen Kommunen zeigen, dass zivilgesellschaftliches Engagement und das lokale Klima die Entscheidungen der Ausländerbehörde stark beeinflussen. In offiziellen Integrationskonzepten der Kommunen wird die Ausländerbehörde jedoch bislang kaum mitgedacht, selten sitzen ihre Vertreter*innen in Integrationskommissionen. Im Einbezug der Ausländerbehörden liegt jedoch ein enormer Spielraum. Wird dies von Kommunalverwaltungen nicht erkannt, kann Zivilgesellschaft diese Frage durchaus auf die Tagesordnung der Lokalpolitik bringen. Einige Beispiele für Kommunen, in denen die Ausländerbehörde intensiv in die lokale Integrationspolitik eingebunden ist, sind die Städte Wuppertal, Hamm und Freiburg i. Br. sowie der Landkreis Böblingen (Baden-Württemberg) oder der Burgenlandkreis (Sachsen-Anhalt).

Ein zweiter Komplex an Pflichtaufgaben umfasst die Schaffung von Wohnraum und die Sozialleistungen. Hier ergeben sich erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten in der Praxis. Auch wenn beispielsweise die Standards einer Sammelunterkunft vom jeweiligen Bundesland vorgegeben werden, liegt es im Ermessen der Kommune, ob sie weitere Standards setzt und noch während der Such- und Bauphase zivilgesellschaftliche Akteure einbezieht und/oder informiert.

Auch bei der Gewährung sozialer Leistungen, zu denen auch die Gesundheitsversorgung zählt, haben Kommunen erheblichen Spielraum. Beispielsweise haben Asylbewerber*innen und Geduldete in den ersten 15 Monaten lediglich Anspruch auf die Behandlung akuter Erkrankungen. Kommunen der meisten Bundesländer können aber selbstständig darüber entscheiden, wie sie die Prüfung der Notwendigkeit gestalten, d. h. welche bürokratischen Hürden sie Asylsuchenden auf dem Weg zu einem Arztbesuch auferlegen. Auch Fragen der Notwendigkeit von psychosozialer Begleitung, der Zugang zu Gesundheitsleistungen für Menschen, die eine oder mehrere Voraussetzungen für Aufenthalt oder Einwanderung nicht erfüllen, sowie Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung des lokalen Gesundheitswesens können durch Kommunen geklärt werden. Als seit Jahren bereits sehr fortschrittlich gelten beispielsweise Kiel und München.

Bildungsangebote, insbesondere Kinderbetreuung

Im Rahmen der verpflichtenden Selbstverwaltungsaufgaben sind Kommunen Träger von Schulen, übernehmen Aufgaben der Jugendhilfe oder betreiben Kindertageseinrichtungen. Wie die staatlichen Schulämter des Landes gemeinsam mit kommunalen Stellen beispielsweise die Schulpflicht durch- und umsetzen, kann sehr unterschiedlich sein: Werden Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung in einem inklusiven Ansatz auf bestehende Klassen verteilt, oder werden gesonderte »Willkommensklassen« eingerichtet? Werden spezielle begleitende Angebote für Asylsuchende geschaffen oder bestehende Einrichtungen für Flüchtlinge geöffnet? In solchen Fragen spiegelt sich die Diskussion um eine interkulturelle Öffnung kommunaler Einrichtungen.

Diese Debatte ist für kommunale Integrationspolitik geradezu paradigmatisch und wird je nach Standort bereits unterschiedlich lange, unterschiedlich intensiv und mit unterschiedlichem Ausgang geführt. Besonders große Unterschiede zwischen Kommunen gibt es auch mit Blick auf den Besuch von Kitas: Für Geflüchtete gilt der allgemeine Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Die Verwirklichung des Rechtsanspruchs ist jedoch erstens davon abhängig, ob vor Ort genügend Plätze vorhanden sind. Zweitens müssen Geflüchtete ihren Rechtsanspruch kennen. Einige Kommunen scheinen die Hoffnung zu haben, dass der Kita-Besuch aus kulturellen Gründen wenig nachgefragt wird und daher auch nicht gesondert beworben werden muss.

Beratung, Arbeitsmarktintegration, Förderung von Zusammenhalt und Engagement

Unter die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben kann beispielsweise die positive Antwort auf die Frage fallen, ob Migrationsberatungsstellen auch für Asylsuchende mit schlechter oder unklarer Bleibeperspektive bereitgestellt werden. Auch zusätzliches arbeitsmarktpolitisches Engagement der Kommune jenseits der üblichen Angebote der Jobcenter und Arbeitsagenturen fällt in diese Katego-
rie. Dies gilt auch für Projekte zur Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts vor Ort, also zum Beispiel Begegnungsprojekte, oder die Förderung des freiwilligen Engagements.

Natürlich hängen die Spielräume bei den freiwilligen Leistungen teilweise von der kommunalen Finanzlage ab. Doch mindestens ebenso entscheidend ist der kommunalpolitische Wille. Dies betrifft nicht nur die Finanzen, sondern auch die Einbindung von Wirtschaft und Zivilgesellschaft in die flüchtlingspolitische Strategie der Kommune. Zur Finanzierung entsprechender Maßnahmen und Projekte gibt es außerdem zahlreiche Fördertöpfe auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene. Die Kommune muss sich nur zutrauen, einen entsprechenden Antrag zu stellen.

Ein neues Feld: Initiativen zur kommunalen Aufnahme von Flüchtlingen

Seit einiger Zeit melden sich Kommunen auch in einem Feld zu Wort, in dem sie eigentlich gar keine Kompetenzen haben: die direkte Aufnahme von Flüchtlingen aus Dritt- oder anderen EU-Staaten. Besonders prominent sind dabei die Aktivitäten der deutschen »Seebrücke«, aber auch einzelner Kommunen in ganz Europa (zum Beispiel Palermo, Barcelona, Danzig). Angesichts der verfahrenen Situation zwischen europäischen Mitgliedsstaaten bieten sich Kommunen als Teil einer Lösung an.

Noch allerdings sind Ideen eines »kommunalen Relocation-Mechanismus« oder gar eines »kommunalen Visums« weit von einer Realisierung entfernt. Doch es mehren sich die Stimmen, die fordern, dass diejenigen über die Verteilung von Geflüchteten entscheiden sollten, die es am meisten betrifft: die Kommunen und die Schutzsuchenden selbst. Bis es soweit ist, bleibt kommunalen Initiativen die Möglichkeit, ihr Bundesland zu überzeugen, ein Sonderaufnahmeprogramm zu starten. Dies ist in Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium möglich und wurde auch bereits mehrfach durchgeführt.

Fazit

Städte und Gemeinden in Stadt und Land dürfen und können also eine ganze Menge in der Flüchtlingspolitik. Sie sind sich dessen nur nicht immer bewusst. Es braucht daher eine breite lokale Debatte darüber, wie mit den verschiedenen Spielräumen umgegangen werden sollte. Im besten Fall werden Pflicht- und freiwillige Aufgaben dann gemeinsam in ein kohärentes Integrationskonzept zusammengefügt – und das unter Beteiligung migrantischer und nicht-migrantischer Akteur*innen. Wie aktiv hier eine Kommune ist, hängt nicht so sehr von ihrer finanziellen Ausstattung ab. Auch die geografische Lage – also: ländlich oder städtisch – scheint für die Frage, wie modern und fortschrittlich kommunale Flüchtlings- und Integrationspolitik ist, nicht ausschlaggebend. Viel wichtiger ist der politische Wille, etwas bewegen zu wollen.

 

Weitere Informationen

Hannes Schammann
Foto: Isa Lange, Uni Hildesheim

Prof. Dr. Hannes Schammann ist Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Artikel ist im Materialheft zur Interkulturellen Woche 2019 erschienen. Das Heft können Sie hier bestellen.